500 Jahre "Reformation"

In wenigen Tagen jährt sich der offizielle Beginn der "Reformation" zum fünfhundertsten Mal. Manche werden den Tag als Jubiläum feiern. Was es genau zu feiern gibt, ist freilich unklar.

Gemäß der allgemein anerkannten Geschichtsschreibung geht die Geschichte etwa so: Ein tapferer deutscher Mönch, aufgrund der Rettung vor einem Blitzschlag und eines entsprechenden Gelübdes ins Augustiner-Kloster zu Erfurt eingetreten, widerspricht nach einem geistigen Erweckungserlebnis im Turm seines Klosters furchtlos einer tyrannischen Kirchenhierarchie und riskiert dabei sein Leben. Er bleibt trotz Drohungen bei seinen Thesen zu Ablass, Messe und Papsttum, die er als Wiederherstellung des von der Kirche verschütteten biblischen Glaubens betrachtet. Er deklariert die Bibel zur alleinigen Glaubensquelle und übersetzt sie heldenhaft auf einer Burg klausuriert ins Deutsche, damit sie alle lesen können.

Nach der theoretischen Widerlegung des Zölibats holt er sich auch praktisch, was ihm zusteht.

Es kommt zu einer Kirchenspaltung, an der der wackere Rebell aber unschuldig ist. Er wollte ja nur eine Reform, kein Schisma. So oder anders wird er zum Wegbereiter der neuzeitlichen Freiheit und der politischen Selbständigkeit Deutschlands. Die unflätige Wortwahl muss man ihm nachsehen, denn die war Bestandteil des damaligen Zeitgeistes und Lebensgefühls. Wirklich schlimm sind nur die antijüdischen Ressentiments, aber die werden ebenfalls mit dem Zeitgeist erklärt – oder gar nicht thematisiert.

So oder so ähnlich ist die Geschichte um Martin Luther fixer Bestandteil des Schulunterrichts, der Filmindustrie, des Feuilletons, des Bildungsbürgertums, von Landesausstellungen, mit einem Wort, der "offiziellen" Geschichtsschreibung.

Diese ist aber falsch, wie alle wissen, die sich näher mit der Materie beschäftigen.

Es gibt einige Standardwerke kritischer Literatur, nicht zuletzt von Konvertiten. Zwei dieser Bücher wurden auf dieser Seite bereits ausführlich gewürdigt: Paul Hackers Das Ich im Glauben bei Martin Luther (http://www.andreas-unterberger.at/2014/11/zum-bevorstehenden-lutherjahr-die-wurzeln-lutherischer-theologie/) und Theobald Beers Der fröhliche Wechsel und Streit (www.andreas-unterberger.at/2014/12/noch-einmal-martin-luther-die-theologische-verwirrung-und-ihre-folgen/), was zu intensiven Diskussionen im Kommentarbereich führte.

Heuer ist ein dünnes, gleichwohl aussagekräftiges Buch des katholischen Philosophen Franz Kronbeck erschienen, der auf wenigen Seiten das Problem Luthers auf den Punkt bringt.

Es lautet: "Martin Luthers Kampf mit Gott"

Martin Luther war mit Gott und mit sich nicht im Reinen. Daraus folgte alles andere. Er, "als Student ein lebenslustiger Bursche" und höchstwahrscheinlich Vater unehelicher Kinder, versuchte mit seinem Klostereintritt vor den juristischen und psychologischen Konsequenzen eines Vergehens zu fliehen, nämlich der Tötung eines Kommilitonen im (bei Todesstrafe verbotenen) Duell. Der Eintritt ins Kloster war somit nicht innerlich frei vollzogen und daher Anlass zu großem Seelenleid. Die ganze weitere theologische und kirchenpolitische Entwicklung Luthers war davon geprägt.

Sie bestand aus Selbstrechtfertigungen, Projektionen, Ausreden und Anklagen. Hier kommen wir in eine Problematik, die heutzutage endemisch geworden ist, nämlich das Abwälzen eigener Schuld und die damit verbundenen Rationalisierungen und sonstigen Verrenkungen:

"Luther wollte, wer könnte es ihm verargen, wieder frei sein, er wollte eine Schuld loswerden, die er wahrscheinlich nie als die eigene angenommen hat, und über die er nie zu einer echten Reue gekommen ist."

Um damit – vermeintlich – fertigzuwerden, leugnet Luther die Willensfreiheit und schreibt Gott die Alleinwirksamkeit für das menschliche Handeln zu.

Unfreier Wille – unfreie Gesellschaft

Was wie eine theologische Spitzfindigkeit ohne Konsequenzen in Gesellschaft und Politik klingt, ist doch eine allzu reale Revolution. Diese gefährdet das Fundament der Gesellschaft. Denn wenn der freie Wille des Menschen geleugnet wird, somit auch seine Verantwortung, kann der einzelne zwangsläufig nur als unfreier und unmündiger Mensch betrachtet werden. Über diesen muss aber eine spezielle Führungsschicht stehen.

Das öffnet der Diktatur Tür und Tor. Luther oszillierte zwischen Unterwürfigkeit (gegenüber den Fürsten) und diktatorischem Gehabe. Er gab etwa seinen Willen als Begründung theologischer Fragen an: "Wan euer Papist sich vil unnütz machen wil mit dem Wort sola allein so sagt ihm flugs also: Doctor Martin Luther wills also haben und spricht: Papist und Esel sey ein Ding sic volo, sic jubeo, sit pro ratione voluntas". ("So will ich es, so befehle ich es. Der Wille gelte als Begründung.")

Kronbeck kommt zum Kern des Problems:

"In einem Brief aus dem Jahre 1525 an Erasmus von Rotterdam schreibt Luther, dass es ihm bei seinem Streit gegen Kirche und Papst in Wahrheit gar nicht um den Ablasshandel, um Missstände in der Kirche oder ähnliches geht, sondern um den freien Willen: ‚dass der freie Wille eine reine Lüge sei‘ (…) So habe Gott die Menschen alle zu Sündern gemacht, und mit den Geboten habe er sie nur beschämen wollen, so dass sie erkannten, dass sie das Gute nicht tun können; erst der Glaube mache den Sünder zum Gerechten. Dass diese Lehre nicht nur dem althergebrachten Glauben, sondern auch dem Zeugnis der Bibel und der Vernunft widerspricht, wusste Luther selbst nur allzu gut."

Analog zum Islam kommt Luther zu einer doppelten Prädestination, die die Kirche eben niemals gelehrt hat. Die Kirche betonte immer die menschliche Verantwortung für Heil oder Unheil:

"Luther aber leugnet die Freiheit des Menschen in der entscheidenden Frage, nämlich in der Frage nach dem ewigen Heil, und behauptet, dass Gott über die Menschen ohne deren Zutun bestimme."

Aus dem monströsen Gottesbild folgt daher ein inadäquates Menschenbild.

Abschieben der Verantwortung: Zuflucht in Ausreden

Man kann sagen, dass Luther in gewisser Weise ein Vorläufer des "modernen" Determinismus ist, gemäß diesem der Mensch durch Erbanlagen, Umwelt, Innenwelt o. a. in seinem Handeln vollständig bestimmt wäre und keine Freiheit hätte. Anhand der Geschichte Luthers erkennt man diese Ideologeme als Rationalisierungen für eigenes Fehlverhalten, also Ausreden.

Psychologische Schulen, angefangen von Sigmund Freuds Psychoanalyse, verkaufen solche Ausreden ihren Patienten um bares Geld.

Man leugnet die menschliche Willensfreiheit – fordert aber häufig gleichzeitig die Freiheit von der geistlichen Autorität der Kirche. Deutlicher gesagt: Man fordert die Freiheit zur Sünde.

Wie bei Luther selbst geht es heute dabei klarerweise prominent um die Sexualität.

Unter diesem Aspekt ist Luther ein Vorläufer des Lebensgefühls unserer Zeit, das neben dem freien Willen und der menschlichen Verantwortung folgerichtig auch die Vernunft beim Fenster hinausgeworfen hat (was klarerweise nicht ausschließt, dass die menschliche Freiheit von oft sehr massiven Umständen beeinflusst wird, was sowohl von Moraltheologie als auch Strafrecht berücksichtigt wird).

Es ist eine ganz besondere Tragik, daß diese Verwirrung im derzeitigen Unglückspontifikat tief in die Kirche eingedrungen ist. Offenbar empfindet Papst Franziskus Martin Luther als Seelenverwandten.

Politische Folgen

Kronbeck fasst die politischen Folgen der theologischen Weichenstellungen Luthers so zusammen:

"Die Folgen auf politischem und sozialem Gebiet waren jedoch katastrophal – für Deutschland, für Europa, ja für die ganze Welt: Infolge der Spaltung der Christenheit ist auch die politische Einheit in Europa verloren gegangen. Zwar hatte es schon seit Jahrhunderten eifersüchtige Auseinandersetzungen zwischen Papst, Bischöfen und weltlichen Herrschern, zwischen dem Kaiser, den französischen und den deutschen Königen und Landesfürsten gegeben, zwischen rein weltlich gesinnten Politikern und Kirchenfürsten, wie auch zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Ständen untereinander, doch blieb der Glaube als einigende Grundlage bis dahin unangetastet. Nun aber überlagerten sich politische und religiöse Fragen."

Resümee

Was sich Luther selbst erlaubte, erlaubte er anderen nicht und wandte sich massiv gegen diejenigen, die ihrerseits neue sektiererische Bewegungen gründeten. Luther diente sich deutschen Landesfürsten an, die einen willkommenen Vorwand sahen, sich am Eigentum der Orden zu bereichern.

Die Lutherschen Ideen führten schließlich zum Schisma ganzer Nationen. Auch das ist kein rein theologisch-akademisches Problem oder lediglich "Mönchsgezänk". Immerhin wurde der Dreißigjährige Krieg daraus geboren.

Die Revolution gegen Thron und Altar ging weiter und führte über die Französische Revolution und die Russische Revolution zum Zerfall des Abendlandes, zum gegenwärtigen Heidentum und zur Islamisierung.

Diese Entwicklung beschleunigte sich in den letzten Jahrzehnten.

Klarerweise sind die protestantischen Würdenträger aufgerufen, diesen Dingen nicht auszuweichen, sondern sie klar zu benennen. Sie sind auch aufgerufen, sich über die Legitimität ihrer jeweiligen Gemeinschaft Gedanken zu machen. Mit welcher Autorität agieren sie? Mit derjenigen Gottes? Warum gibt es dann so viele und einander theologisch widersprechende Gruppen und Gemeinschaften? Das ist doch alles eine Lebenslüge!

Aus irgendwelchen geschichtspolitischen Gründen wird Luther von der "offiziellen" Geschichtsschreibung hochgehalten und vor ungeziemenden kritischen Anfragen geschützt. Offensichtlich spielt er als Revolutionär eine wichtige Rolle, die nicht aufs Spiel gesetzt werden soll. Deswegen wird er auch heuer gefeiert werden.

Aber es ist unehrlich.

Buchhinweis:
Franz Kronbeck,
Martin Luthers Kampf mit Gott,
Sarto, Bobingen 2017

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MMag. Wolfram Schrems, Theologe, Philosoph, Katechist; reiche Erfahrung im interkonfessionellen Gespräch

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