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Das Martyrium der Margarethe Ottillinger

Man schreibt den 5. November 1948. Mit gebieterischem „Stoj“ („Halt“)und der MP im Anschlag beenden zwei Rotarmisten die Fahrt eines aus Linz kommenden und auf St. Valentin zusteuernden Pkw auf der Brücke über die Enns. Der Fluss bildet die Demarkationslinie zwischen amerikanischer und sowjetischer Besatzungszone in Österreich. Im Wagen sitzen Peter Krauland, Minister für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, und Margarethe Ottillinger, mit 29 Jahren die jüngste Ministerialbeamtin der (wie das geteilte Deutschland) unter Besatzungsstatut stehenden Republik Österreich. Die promovierte Ökonomin leitet die Planungsabteilung des Ministeriums und ist die Vertraute des Ministers. Während Krauland unter Berufung auf seine Immunität als Regierungsmitglied alsbald die Fahrt nach Wien fortsetzen kann, wird seine „rechte Hand“ festgesetzt und nach ersten Vernehmungen in die Verhörzentrale der NKWD-Gegenspionage-Truppe „Smersch“ nach Baden bei Wien verbracht.

Wochenlang wird sie verhört, mal bei Tag, meist in der Nacht. Es ist eine Tortur. Stundenlang muss sie aufrecht stehen, nicht selten in eiskaltem Wasser. Die Pein heißt „Stehkarzer“: Schlafentzug, die Verweigerung des Gangs zur Toilette sowie unter die Dusche sollen sie zum „Geständnis“ bringen.

Doch längst ist in Moskau ihr Urteil gefällt: 25 Jahre Zwangsarbeit. Begründung: Spionage für die USA und Fluchthilfe für Andrej Didenko, einen russischen Erdöl-Fachmann, den sie im Zuge ihrer Arbeit kennengelernt hat. „Wir haben uns geliebt“, bekundet sie den Geheimdienstoffizieren gegenüber, die sie verhören. Und sie versteckt ihn in Graz, von wo aus er zu den Briten überläuft, die ihn an die Amerikaner weiterreichen, von denen er sich anwerben lässt.

Die beiden sollen sich nie mehr wiedersehen: Sie wird am 24. Mai 1949, kurz vor ihrem 30. Geburtstag, mit anderen Gefangenen in einem Viehwaggon in den Gulag-Bezirk 385 Potma in Mordwinien, 500 Kilometer südöstlich von Moskau, verbracht, wo 40.000 Männer und Frauen in Straflagern interniert waren. Den „Vaterlandsverräter“ Didenko hingegen entführen KGB-Agenten 1951 aus der Bundesrepublik Deutschland, wo er für die Amerikaner tätig war. Sein aus KGB-Akten erschlossener Weg endet in einer psychiatrischen Anstalt in Kasan an der Wolga, 800 Kilometer östlich Moskau.

Derweil ist das Martyrium der Margarethe Ottillinger noch lange nicht ausgestanden. Nach diversen Eingaben, in denen sie beteuert, nie für die USA spioniert zu haben, überstellt man sie im März 1950 in das berüchtigte Moskauer Massengefängnis Butyrka, wo sie das verlangte Geständnis trotz schmerzhafter und erniedrigender Untersuchungsmethoden nicht ablegt. Obwohl sie aufgrund verheerender hygienischer Verhältnisse an Ruhr erkrankt, wird sie nach Potma zurückgebracht und einen Monat später wieder nach Moskau überführt, nunmehr in eine Zelle in der KGB-Zentrale Lubjanka. Wiederum ist sie Schlaf entziehenden und auf psychischen Zusammenbruch zielenden nächtlichen Verhören sowie peinlichen, auch ins Körperliche gehenden Schikanen der Tschekisten unterworfen.

All ihre Beschwerden werden abgewiesen; es bleibt bei 25 Jahren Gulag. Bevor man sie im September 1952 in einem Güterwaggon in den „Polit-Isolator“ nach Vladimir 220 Kilometer nordöstlich von Moskau verbringt und der zunehmenden offiziellen Anfragen aus Österreich wegen die Arbeitslagerhaft in Gefängnisstrafe umwandelt, erkrankt sie schwer. So sie überlebe und heimkehre, gelobt sie, werde sie eine Kirche bauen.

Das Gelübde löst sie 20 Jahre nach ihrer Heimkehr in Österreich ein. Ottillingers Repatriierung wird im Zuge des zwischen Wien und Moskau geschlossenen Staatsvertrags von 1955 möglich, der auch die Amnestie von noch in sowjetischem Gewahrsam befindlichen Gefangenen vorsieht. Am 25. Juni 1955 fährt der Zug mit Heimkehrern in Wiener Neustadt ein. Margarethe Ottillinger, die man ob ihres geschwächten Zustands auf einer Bahre aus dem Waggon tragen muss, beschreibt den Augenblick später so: „Ich fand die Meinen wieder und erschrak, dass ich keine Tränen mehr hatte. So sehr war ich der Freude und Rührung entwöhnt“.

Nach Monaten der Rekonvaleszenz kommt sie – ihr vormaliges Amt existiert ebensowenig wie das Ministerium, in dem sie tätig gewesen – auf Empfehlung von Kanzler Julius Raab zur OMV, der „Österreichischen Mineralölverwaltung“, als deren Vorstandsmitglied sie 1962 erstmals wieder nach Moskau reist, um Gaslieferverträge auszuhandeln. In den 1970er Jahren lässt sie auf dem Georgenberg hoch über Wien nach einem Entwurf des Bildhauers Fritz Wotruba die aus 152 übereinander getürmten Betonblöcken gefügte Kirche „Zur Heiligsten Dreifaltigkeit“ errichten. Seinerzeit ob ihrer Monstrosität umstritten, sollte die „Wotruba-Kirche“ zu einer zwar abseits gelegenen, aber doch magnetisierenden Touristenattraktion werden.

Die tiefgläubige Frau, die die „schönsten Jahre des Lebens“ im Gulag verbringen muss, geht 1982 in Pension und tritt als Terziarin in die Ordensgemeinschaft der Servitinnen ein, die nach einer anerkannten Regel, jedoch nicht im Kloster leben. Zehn Jahre später, am 30. November 1992, stirbt sie 73jährig an einem erlittenen Blutsturz, dem Symptom einer fortgeschrittenen Krebserkrankung, welche wohl auf Spätfolgen der einst erlittenen physischen Torturen und psychischen Qualen zurückzuführen waren. Und sie beschließt ihr irdische Existenz, ohne je mit Bestimmtheit die Ursachen für sieben Jahre unvorstellbar harter sowjetischer Gulag-Haft erfahren zu haben.

Dem Grazer Historiker Stefan Karner ist es nunmehr gelungen, den „Fall Ottillinger“ restlos aufzuklären. Davon zeugt das hier ob seiner umsichtigen und sorgfältigen Edition zu rühmende Buch. Der Leiter des „Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung“, der sich unter anderem durch die Aufarbeitung der Akten und somit Klärung des Schicksals von Hunderttausenden in sowjetischem Gewahrsam befindlichen österreichischen und deutschen Kriegsgefangenen sowie mit gewichtigen, erkenntnisstarken und international beachteten zeitgeschichtlichen Publikationen zum Ost-West-Konflikt einen Namen machte, war indes schon 1991 anlässlich erster Einblicke in Akten des KGB auf den Fall gestoßen.

Zwar konnte er ihn in einem ersten 1992 erschienenen Buch schon aufrollen und einigermaßen erhellen. Doch die gänzliche Enträtselung gelang Karner erst, nachdem ihn „eine kleine Karteikarte, handgeschrieben, im Erdgeschoß des ehemaligen Sonderarchivs des Ministerrats der UdSSR, im Nordwesten der Stadt auf ihre Spur führte“. Aus ihrem Personalakt sowie den erst nach mehr als 20 Jahren einsehbaren, jahrzehntelang unter Verschluss gehaltenen KGB-Verhörprotokollen stieß Karner auf Details in Ottillingers Umfeld, die zuvor nicht bekannt waren und nunmehr die letzten Geheimnisse zu enträtseln halfen.

Entstanden ist daraus ein Buch, das sich – wiewohl als streng wissenschaftliche Publikation angelegt und allen Erfordernissen an Quellenkritik sowie Präzision voll entsprechend – spannend wie ein Kriminalroman ließt. Die photographische und/oder faksimilierte Wiedergabe von Dokumenten sowie Bildnisse untermauern die Authentizität der Geschehnisse sowie die Fährnisse, Schrecken und Grausamkeiten, welche das Schicksal dieser tapferen, auf Gottvertrauen bauenden Frau im Gulag vor Augen führen.

Der Fall ist alles andere denn singulär. Was Ottilinger widerfuhr, durchlitten auch Tausende andere Frauen und Männer, die – ob schuldig oder unschuldig – dieser Art sowjetischen Gewahrsams teilhaftig wurden. Stefan Karner hat mit der fundierten Darlegung und Darstellung des Schicksals der Margarethe Ottillinger zugleich auch den vielen Namenlosen, von denen die meisten irgendwo diesseits und jenseits des Urals verscharrt worden sind, einen Namen gegeben.

Der Autor ist deutsch-österreichischer Historiker und Publizist

Informationen zum Buch:

KARNER, STEFAN
Im Kalten Krieg der Spionage. Margarethe Ottillinger in sowjetischer Haft 1948-1955;
Innsbruck (Studien-Verlag) 2016;
244 Seiten, zahlreiche Abbildungen;  
19,90 EUR

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