Los von Rom?

Die Staatsschuldenkrise in der EU zeitigt Folgen anderer Art, die außerhalb ihres Wirkungsgebiets noch kaum wahrgenommen werden. So gewinnt, sozusagen im Schatten, die die Lichtquellen der europäischen Öffentlichkeit werfen, unterm Brenner eine Diskussion darüber an Breite, ob der südliche Landesteil Tirols im Stiefelstaat verbleiben oder seine Zukunft anderswo suchen sollte.

Schon einmal, im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands, war eine ernstzunehmende Debatte darüber in Gang gekommen, ob die Südtiroler – bei Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts – darüber befinden können sollten, ob ihr Land, das als Autonome Provinz Bozen-Südtirol auch nach dem Zweiten Weltkrieg bei Italien verblieb, (vorerst) nach einer Freistaatslösung streben (und später) oder sogleich nach Österreich rückgegliedert werden soll. Und mit den Andreas-Hofer-Feiern 2009, im Gedenken an die Tiroler Volkserhebung 1809, erhielt sie abermals Auftrieb.

Die damaligen Antworten, gegeben von den politischen Kräften, die in Bozen, Innsbruck und Wien das Sagen haben – der römische Standpunkt war, ohne ihn extra zu erfragen, ohnedies klar – lautete: Mit der Erweiterung der EU durch Mitgliedschaft Österreichs (1995) und dem mittels Schengen-Regimes vollzogenen Entfernen der Schlagbäume verliere der Brenner seinen Charakter als „Unrechtsgrenze“. Mit dem Entfall von Grenzkontrollen sowie der grenzüberschreitenden Kooperation, mit gemeinsamen Landtags- sowie Regierungssitzungen und dergleichen mehr wachse wieder zusammen, was einst getrennt worden war.

Die Landeseinheit erwachse daher gleichsam aus dem Prozess ihrer Europäisierung. Und die seit 1945 in Bozen regierende Sammelpartei SVP sah statt in der Ausrufung des – nachgerade in ihrem Parteistatut verankerten – Selbstbestimmungsrechts sowie den Freistaats- und/oder Rückgliederungsgelüsten, wie sie vornehmlich die Opposition propagierte – auch in Innsbruck und Wien – die Zukunft des Landes(teils) in der „Dynamisierung seiner Autonomie“.

Die neue politische Lage

Heute ist die Lage eine andere. Nicht, dass die SVP ihre Haltung verändert hätte. Sie hat aber merklich an Strahlkraft eingebüßt, und ihre Position im Südtiroler Landtag ist seit der Landtagswahl 2008 geschwächt, wo sie nur mehr über 18 von 35 Sitzen verfügt. Mitunter lässt sie sich auf Händel mit italienischen Parteien ein, die ihr früher nicht in den Sinn gekommen wären. Und die geeignet sind, den Oppositionsparteien und deren Begehr weiteren Zulauf zu garantieren.

Der wird von einem noch lange nicht verdauten Skandal im Landesenergieversorger SEL AG  befördert, dessen personelle Verflechtungen mit ihr der SVP schaden. In der Zukunftsfrage plädieren die „deutschen“ Oppositionsparteien – Freiheitliche (fünf Sitze), Süd-Tiroler Freiheit (zwei Sitze) und Union für Südtirol (ein Sitz) – für einen „Freistaat Südtirol“ oder für „Rückkehr zum Vaterland Österreich“; jedenfalls verbindet sie trotz Nuancen in der politischen Betrachtung und gelegentlicher Reibereien zwischen den maßgeblichen Personen das „Los von Rom“.

Verstärkt wird das Begehr trotz des „moderaten“ Mario Monti an der Spitze jener „Expertenregierung“, die nach Jahrzehnten des „Dolce far niente“ mittels eines ambitionierten Sparpakets versucht, den ramponierten Ruf Italiens wieder einigermaßen herzustellen. Sie hebt dabei all die im Rahmen der mühsam erkämpften (Finanz-) Autonomiebestimmungen für Südtirol erwachsenen Vorteile aus den Angeln und führt damit Buchstaben, Geist und Wert des gesamten Autonomiepakets und dessen völkerrechtliche Verankerung ad absurdum.

Hinter die Separations- und Wiederangliederungsgelüste der Oppositionskräfte in (Süd-)Tirol und Österreich stellt sich ein großer Teil der – parteipolitisch neutralen – Schützen, jener traditionsreichen Verbände, die in beiden Landesteilen verankert sind und ihre Heimattreue seit dem Maximilianischen Landlibell von 1511, in welchem die Freiheiten (der Stände) Tirols kodifiziert wurden, mannigfach unter Beweis stellten. Auch unter der Südtiroler Jugend finden derlei Anwandlungen Gehör, und sogar in Verbänden Wirtschaftstreibender wird die Option eines selbstbewussten, eigenständigen „Südtirol außerhalb Italiens“ nicht (mehr) verworfen.

Ganz offen sprechen Handelstreibende, Touristiker, Industrielle und Handwerker darüber, dass sie, je mehr sich die „Krise Italiens auswächst“, ihre unternehmerische Zukunft „anders ausrichten“. Nicht wenige investieren vermehrt in Österreich und Deutschland. Das Ziel, „nicht in den Sog der Krise Italiens“ zu geraten, drückt sich denn auch in einem  Landtagsbeschluss aus, in dem es heißt, man werde sich jeder weiteren finanziellen Belastung und Beschneidung der erworbenen Rechte des Landes Südtirol durch Sparmaßnahmen der italienischen Regierung widersetzen. Für die Opposition ist das aber entschieden zu wenig. Sie verlangt eine Art Befreiungsschlag.

Österreichische Staatsbürgerschaft für Südtiroler?

Und im Nationalrat zu Wien ließ die FPÖ verlauten, Österreich müsse „Südtirol die Möglichkeit geben, sich dem italienischen Abwärtsstrudel zu entziehen". Eine erste Möglichkeit sei die Gewährung der Staatsbürgerschaft für Südtiroler. In Wien wie in Bozen wird auf das Beispiel Ungarns verwiesen: Budapest verleiht allen ethnischen Ungarn außerhalb des Landes, die sie beantragen und ihr Magyarentum nachweisen, die Staatsbürgerschaft.

Das ist in der EU umstritten, und in Wien haben sowohl das Außen- als auch das Innenministerium Bedenken. Doch in einem Gutachten des Innsbrucker Rechtswissenschaftlers Günther Obwexer und in Stellungnahmen des Verfassungsdienstes des Bundeskanzleramts wird die Möglichkeit der entsprechenden Gesetzesanpassung und also Erteilung der Staatsbürgerschaft – für die eine Bürgerinitiative 22 000 Unterschriften sammelte und für die auch die SVP-Führung Sympathie signalisierte – für rechtskonform gehalten. Insofern ist „die doppelte Staatsbürgerschaft für Südtiroler nur noch eine Frage des politischen Willens", den aber SVP und österreichische Regierung „doch nicht aufzubringen gewillt“ seien, lassen die Oppositionsparteien verlauten.

Unlängst hat die Süd-Tiroler Freiheit zudem in der Gemeinde Ahrntal – sie besteht aus mehreren Ortschaften und hat knapp sechstausend Einwohner – ein „Selbstbestimmungs-Referendum“ organisiert. Dabei sprachen sich 95 Prozent derer, die daran teilnahmen, für die Einforderung und Anwendung des Selbstbestimmungsrechts aus. Bei einer Beteiligung von nur 31 Prozent der Wahlberechtigten kann von Repräsentativität nicht gesprochen werden, zumal sich der Wahlerfolg der Partei Süd-Tiroler Freiheit bei der Kommunalwahl in dieser Gemeinde (2010) prozentual mit diesem Ergebnis nahezu deckt. Woraus hervorgeht, dass offenkundig lediglich ihre Anhänger am Referendum teilnahmen.

Doch so anfechtbar das Ergebnis auch sein mag, es gänzlich zu negieren wäre fahrlässig. Denn den Charakter eines Stimmungsbarometers trägt es. Würden auch die beiden anderen Oppositionsparteien bei einem landesweiten Referendum mitmachen – so es in der EU bei den Staatsschulden zur krisenhaften Zuspitzung mit Folgen für den Euro käme, wobei just im Blick auf Italien letzten Endes wohl nicht so schnell mit einer wirtschafts- und finanzpolitischen Erholung zu rechnen sein dürfte – so geriete auch die SVP unweigerlich in den Sog des Begehrens „Los von Rom“

Sie könnte sich dem Selbstbestimmungsverlangen wohl nicht länger mit der Begründung entziehen, Voraussetzung dafür sei, dass Rom völkerrechtliche Verträge missachte und zu seiner Durchsetzung – nach positivem Ausgang – der Wille und die Kraft Österreichs vonnöten sei, des Vertragspartners Italiens. Beides ist nicht gar so irreal wie es noch scheinen mag. In Österreich dürfte, so die Koalition aus SPÖ und ÖVP weitermacht wie bisher, eine Kanzlerschaft des FPÖ-Chefs Heinz-Christian Strache in Reichweite rücken. Der war unlängst in Südtirol und hat „jedwede Unterstützung für die Selbstbestimmung“ bekundet. Mit der Vertragstreue Roms ist es in Bezug auf Bozen im Rückblick auch nicht gerade zum Besten bestellt gewesen.

Und wenn die SVP in diesem sich verstetigenden politischen Gärungsprozess nicht mehr zu bieten hat als die Proklamation der „Vollautonomie“ – die einer ihrer ganz schlauen Landesräte Rom für ein Linsengericht von 15 Milliarden Euro abzukaufen gedenkt, womit er und seine Parteifreunde zugleich aber eingestehen (müssen), dass es sich im stets gepriesenen „Modell Südtirol“ allenfalls um eine Halb- oder Teilautonomie handelt – so dürfte sie womöglich ein „blaues Wunder“ erleben.

Der Autor ist ein deutsch-österreichischer Journalist und Historiker, der für mehrere Zeitungen schreibt.

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