Wehrkraft ohne Wehrgesinnung

Deutschland sucht wieder einmal händeringend Soldaten. Sechs Jahre nach Aussetzen der Wehrpflicht melden sich immer weniger Bürger zur Bundeswehr. Bis Ende August bewarben sich nur 10.105 Männer und Frauen für den Dienst an der Waffe. Das ist ein Rückgang von mehr als 15 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Mindestens jeder vierte Bewerber bricht den freiwilligen Wehrdienst während der Probezeit wieder ab. Das Klagelied des Berliner Ministeriums wird nach einer ganz ähnlichen Melodie auch in Österreich gesungen.

Hierzulande ist vor allem die Präferenz für den Zivildienst der Grund dafür, dass dem Bundesheer pro Jahr 2000 Rekruten fehlen. Nahezu ein Drittel der österreichischen Wehrdiener besteht im Übrigen bereits aus Personen mit Migrationshintergrund. Über der Identifikation dieses Segments mit der österreichischen Lebenswelt steht ein großes Fragezeichen.

Fehlender Stolz ist fehlendes Wir-Gefühl

Die Not der deutschen Regierung an Soldaten fügt sich zu den Ergebnissen einer aktuellen Umfrage, in der sich das Münchner IMAS-Institut danach erkundigt hat, auf welche Vorzüge ihres Landes die Bundesbürger am meisten stolz sind. Triste Erkenntnis: Unter den vielen zur Auswahl gestellten Möglichkeiten des Stolzes wurde "unsere Armee, die Bundeswehr" mit mageren 21 Prozent an die allerletzte Stelle gereiht. Die Wertschätzung der Deutschen für Ihre Streitkräfte ist nicht einmal halb so groß wie die für die Fußballer.

Der demoskopische Befund stimmt nachdenklich, denn die Zuwendung zu den eigenen Streitkräften gilt als ein Indikator für den inneren Zustand und das "Wir-Gefühl" einer Gesellschaft. Der geringe Stellenwert der Bundeswehr lässt somit auf eine geschwächte Bindung der Deutschen zu ihrem Land schließen. Es wäre eine Illusion zu glauben, in Österreich sei das wesentlich anders.

Das historische Gedächtnis verblasst

Bei der Suche nach Erklärungen für diese Situation ist freilich zu bedenken, dass wir uns in einer postheroischen Zivilgesellschaft befinden, in der Kriege zumindest innerhalb der westeuropäischen Staatengemeinschaft dank EU und NATO als außer Kraft gesetzt gelten. Das Umschalten auf "Zivil" hat dazu geführt, dass die militärischen Traditionen aus der Wehrmacht, aber auch solche aus dem 1. Weltkrieg heute einer kollektiven Verdammnis verfallen sind. Dazu kommt, dass die familiäre Verflochtenheit mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu verblassen beginnt.

Es ist davon auszugehen, dass ein Großteil der Stammbevölkerung den Zweiten Weltkrieg auf schmerzhafte und tragische Weise zu spüren bekam. 45 Prozent der Deutschen und Österreicher berichteten in einer vorausgegangenen Untersuchung von Kriegstoten aus dem engeren Verwandtenkreis. Von den Personen im Seniorenalter verwiesen rund zwei Drittel auf Verwandte, die im Krieg umkamen, von den Angehörigen der jungen Generation hingegen nur jeder Vierte.

Dies besagt, dass rund 75 Prozent der Personen unter dem 30. Lebensjahr eine unmittelbare Betroffenheit der eigenen Familie vom Totentanz des 2. Weltkriegs nicht mehr bewußt ist. Aus dem Unwissen familiärer Verluste ergibt sich zwangsläufig das Gefühl einer geringen Verquickung in das damalige Geschehen. Die heranwachsenden Deutschen und Österreicher leben also in der Fehlvorstellung einer verwandtschaftlichen Unbeflecktheit von der Geschichte. "Die Nazis" sind nicht mehr eigene Väter, Großväter, Großonkels oder Tanten, sondern werden zunehmend als eine ganz eigene Kategorie von Menschen empfunden, mit denen man selbst im Grunde nicht das mindeste zu tun hat. Es kann als sicher gelten, dass das Bewußtseinsmanko hinsichtlich der eigenen Verflochtenheit in das seinerzeitige Geschehen die moralische Position bei der Vergangenheitsbetrachtung stark beeinflusst.

Einsatz des Lebens – die unbeantwortete Frage nach der Sinnhaftigkeit

Der Umstieg von den früher gängigen Denkweisen in die Zivilgesellschaft, die Mitgliedschaft des eigenen Landes zur Europäischen Union, nicht zuletzt aber auch das Entstehen multikul-tureller Gesellschaften hat für den Soldatenberuf Fragen aufgeworfen, auf die es einstweilen noch keine befriedigenden Antworten gibt.

Der Zufall wollte es, dass in ein und derselben Ausgabe der FAZ (am 21. Juni) zwei Nachrufe auf Soldaten erschienen, die in ihrer krassen Unterschiedlichkeit das Dilemma verdeutlichen und zugleich ein Generationenproblem erkennbar machen. Im vorderen Teil der Zeitung stand an prominenter Stelle ein Bericht über eine Kranzniederlegung des Bundespräsidenten Steinmeier im "Wald der Erinnerung" bei Potsdam für Soldaten der Bundeswehr, die im Zuge von Auslandseinsätzen (zumeist in Afghanistan) verunglückt oder gefallen sind. An den Auslandsmissionen zeige sich das breite Spektrum an Aufgaben, denen die Bundeswehr gewachsen sein müsse, erklärte das Staatsoberhaupt. Daran werde besonders deutlich, "was wir jungen Menschen abverlangen, die im Einsatz für unser Land Risiken auf sich nehmen".

Weit hinten im Blatt erinnerten die Nachkommen des Oberleutnants Adolf Fritsche an den Tod ihres Vaters und Großvaters, der taggenau vor 75 Jahren am Wolchow ( einem Fluß im Nordwesten Rußlands) gefallen war. "Er opferte sein Leben für Heimat und Vaterland" hieß es dazu wörtlich. Am Kopf der Trauerbekundung war das Eiserne Kreuz abgebildet.

Fritsche war einer von rund 5,2 Millionen, die als Soldaten der Wehrmacht ihr Leben verloren haben. Dazu kommen noch schätzungsweise 1,2 Millionen deutsche und österreichische Soldaten, die aus der Gefangenschaft (vor allem aus sowjetischen Lagern) nicht mehr heimkehrten.

Tote zweiter Klasse

Die Toten der Wehrmacht können heute nicht mit offiziellen Ehrungen der Nachwelt rechnen, weil ihr Opfer für das eigene Land mit einem historischen Makel behaftet ist. Sie sind, wenngleich sie in den allermeisten Fällen keine persönliche Schuld auf sich geladen hatten, für die falsche Ideologie gestorben. Ihr naiver Glaube, die Heimat schützen zu müssen, hat aus heutiger Sicht den Anstrich der Unredlichkeit. Ihr einstiges Dasein wird hinsichtlich der moralischen Qualität dem der Täter eines politisch entarteten Regimes gleichgesetzt.

Man kann es drehen, wie man will – die Toten der Wehrmacht sind Tote zweiter Klasse. Die Trauer um sie wurde unter das kaudinische Joch des Zeitgeistes gezwungen und bleibt als widerwillig geduldete Privatsache den betroffenen Familien überlassen.

Trotz allem stellt sich die Frage: Was meinte Frank-Walter Steinmeier eigentlich mit seiner kryptischen Bemerkung, man müsse jungen Menschen abverlangen, "im Einsatz für unser Land Risiken auf sich zu nehmen"? Im Klartext: Worin besteht für einen Soldaten der Bundeswehr, aber auch des Bundesheeres das Motiv, sein Leben einzusetzen? Wird die eigene Heimat und die westliche Zivilisation tatsächlich am Hindukusch verteidigt?

Zum Soldatsein gehört auch in einer Zivilgesellschaft das soldatische Selbstverständnis, also das Motiv des Dienens und die Überzeugung von der Notwendigkeit, für ein hohes Ideal allenfalls sein Leben hinzugeben. Die Antwort auf die Sinnfrage ist einstweilen offen. Sie wird von den europäischen Regierungen den Bürgern beim Bemühen um gemeinsame militärische Anstrengungen jedoch nicht auf Dauer vorenthalten werden können.

Andreas Kirschhofer-Bozenhardt war langjähriger Leiter des renommierten Meinungsforschungsinstituts Imas.

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