Die Jämmerlichkeit der islamistischen Intellektuellen

Die Islamisten haben bestimmte Vorstellungen von Staat, Welt und Zivilisation. Um diese von ihnen hochgehaltenen Werte in ihrer Umgebung zu verwirklichen, pflegen sie einen eigenen Lebensstil. Jahrelang schrieben, debattierten und kämpften sie dafür, daß diese Vorstellung verwirklicht würde.

Aber nichts war so, wie sie es sich vorgestellt hatten. Denn die Realitäten des Lebens sind eben andere! In dieser Region glauben Millionen von Menschen etwas anderes, denken anders und leben anders.

Die Islamisten waren unfähig, einen inklusiven Ansatz zu entwickeln, der die Rechte, Gedanken, Vorstellungen und Lebensweisen anderer berücksichtigt hätte. Kaum erfolgreich, waren sie nicht in der Lage, sich zu erneuern oder den veränderten Umständen entsprechend einen neuen Gedanken oder (ideologischen) Ansatz zu entwickeln.

Das Resultat war der totale Bankrott des Islamismus. Alle Werte, für die er steht, und alle ideologischen Positionen, für die man in der Opposition eingetreten war, erodierten.

Heutzutage wissen wir nicht mehr, was die Islamisten wollen, also welche Werte sie vertreten, worüber sie sich beschweren oder welche Lösungsansätze sie für die Krisen vorschlagen, denen sich das Land gegenüber sieht.

Der Bankrott einer Ideologie ist eine einfach zu verstehende Tatsache. Denn schließlich ist das ja nicht nur den Islamisten passiert. Weltweit hat so manche ideologische Bewegung, sobald sie an der Macht war, einen ähnlichen Bankrott erlebt. Aber dass ihr (Anm. des Übersetzers: moralischer und politischer) Bankrott auch gleich alle ihre Anhänger betrifft, die sich der Verzweiflung hingeben, sich nicht mehr erneuern können, die universalen Werte und selbst ihre eigenen religiösen Werte aufgeben, das ist unerhört.

Bitte mich nicht misszuverstehen: ich rede nicht von den paar ausgewählten Clowns der Machthaber, die Sie im Fernsehen sehen.

Es gab einmal islamistische Autoren, Akademiker und Meinungsführer, die sich mit Literatur beschäftigten, Gedichte, Kurzgeschichten und Romane schrieben, sich für das Kino und Philosophie interessierten und darüber diskutierten. Auf einmal sind sie alle fort. Als ob solche Menschen in diesem Land nicht mehr leben würden…

In diesem Land, in dem so viel passiert: Autoren, Journalisten und Intellektuelle werden nacheinander ins Gefängnis geworfen. Und kein einziger der Islamisten hat dagegen protestiert, Einspruch erhoben, oder einen anderen Vorschlag gemacht.

Heute sind Menschen zum Ziel der Machthaber geworden, die, wiewohl vom anderen politischen Lager stammend, jahrelang im Namen der Freiheit ihre Stimme erhoben haben und gegen Ungerechtigkeiten aufgestanden sind, die gegen das religiöse Lager ausgeübt worden sind. Sie sind entweder im Gefängnis oder haben ihre Arbeit verloren.

Kein einziger islamistischer Intellektueller, Autor, Journalist oder Akademiker schrieb eine einzige Zeile zu dem, was geschah, oder äußerte auch nur einen Satz darüber, was mit diesen Menschen geschieht.

So wird zum Beispiel für (die Schriftstellerin) Asli Erdogan lebenslange Haft verlangt, weil sie die Publikationsberaterin der (linken kurdischen) Zeitung Özgür Gündem ist.

Diese schreckliche Ungerechtigkeit, für Publikationstätigkeit mit Gefängnis und sogar lebenslänglich bestraft zu werden, kümmert die Islamisten nicht.

Viele (Anm.: säkulare und linke) Intellektuelle wie Ahmet Altan, Mehmet Altan, Sahin Alpay, Murat Aksoy, Ahmet Turan Alkan, Nazli Ilicak, Necmiye Alpay und andere, die sich jahrelang gegen die Unterdrückung der Islamisten engagiert haben, sind nun im Gefängnis. Aber kein einziger islamistischer Intellektueller tritt hervor und wagt es danach zu fragen: „Was ist denn die Schuld dieser Menschen?“

Dutzende Autoren und Redakteure der oppositionellen Zeitung Cumhuriyet wie ihr Karikaturist Musa Kart oder der Autor Kadri Gürsel sind mit vollkommen lächerlichen Anschuldigungen ins Gefängnis geworfen worden. Von keinem einzigen Autor haben wir die Frage gehört: „Was um Gottes Willen macht ihr da?“ Und werden wir auch nicht hören.

Diese Gefühllosigkeit der islamistischen Intellektuellen betrifft nicht nur die Intellektuellen und Autoren des anderen Lagers! Selbst von den Freunden des seit Monaten inhaftierten Ali Bulac, den sie “großer Bruder” nannten und der nun seit Monaten inhaftiert ist, kam keiner hervor und hatte den Mut, auch nur einen Satz zu sagen.

Für die anderen (Anm.: säkularen) Autoren engagiert sich wenigstens ihr eigenes Umfeld. Aber weil sich für Ali Bulac nicht einmal die eigenen Freunde engagierten, wurde er ganz und gar in der Haft vergessen.

Es herrscht ein Zustand der totalen Einschüchterung.

Mithilfe der Verfassungsgesetzesnovelle (KHK) wurden zehntausende unschuldige und unbescholtene Menschen entlassen. Als ob die Entlassungen nicht reichen würden, wurden sie mittels KHK auch aus dem Sozialversicherungssystem geworfen und können daher nirgendwo mehr Arbeit finden.

Und als ob das nicht reichen würde, wurde für einen Großteil von ihnen auch noch schnell ein Ausreiseverbot verhängt. Somit wurden zehntausende Familien zu Hunger und Armut verurteilt.

Die Städte sind zerstört, die (vertriebenen) Menschen vegetieren hungrig und durstig in Zeltstädten. Täglich sterben dutzende Kinder.

Zur Zeit steht namens des Präsidialsystems die Übertragung aller Kompetenzen – auch die der Gesetzgebung – an eine einzige Person auf der Tagesordnung.

Trotz alledem gibt es keine Kritik von islamistischen Intellektuellen, niemand steht auf und übt öffentlich Kritik oder formuliert wenigstens eine vernünftige Vorgangsweise.

Dieses ganze Schweigen, diese Feigheit, dieses sich dem Umfeld Anpassen gereicht den Islamisten zur Schande.

Ich will den islamistischen Intellektuellen folgendes sagen: In diesem Land kommt es tagtäglich zu Dutzenden Rechtsverletzung, Übergriffen und Brutalitäten. Das Land steuert unaufhaltsam auf einen Abgrund zu. Auf allen Gebieten herrscht Zerstörung und Elend. Und zu all dem fällt euch nichts ein, habt ihr keinen Standpunkt und keinen gehaltvollen Gedanken formuliert?

Nach all den intellektuellen Bemühungen, den vielen Kurzgeschichten, Romanen, dem vielen Studieren und Forschen ist das der Punkt, an dem ihr angelangt seid?

Die Gefühllosigkeit, Feigheit und Gewissenlosigkeit, die ihr dieser Tage zeigt, passt weder zu eurer muslimischen Identität noch zu eurer Verantwortung als Intellektuelle.

Diese eure Feigheit, Gewissenlosigkeit, euer Nichtwahrnehmen der Rolle als Intellektuelle, euer geschmeidiger Opportunismus und euer plötzliches Verschwinden (Anm.: aus der Öffentlichkeit) werdet ihr ein Leben lang wie ein Schandmal tragen. Ihr werdet nicht mit den Gedichten, Kurzgeschichten und Romanen, die ihr dereinst geschrieben habt, in Erinnerung bleiben, sondern mit eurer Feigheit und Eurer Charakterlosigkeit.

Die Menschen werden das, was wir nun durchmachen und dem gegenüber ihr geschwiegen habt, nicht vergessen. Selbst die Vögel, die Katzen, die Bäume werden nichts vergessen.

Eines interessiert mich noch: wie blickt ihr Euren Kindern, Frauen und Freunden ins Gesicht?

Was fühlt ihr, wenn ihr euch in den Spiegel schaut?

Habt ihr noch ein Schamgefühl, wenn ihr euch eurer Jämmerlichkeit und Schande, in die ihr gesunken seid, gewahr werdet?

Und wenn ihr noch eins habt – also wie lebt sich‘s dann?

Und wenn nicht, dann ist es noch schlimmer.

Daß sich in diesem Land etwas verbessert, sich die Stimmung hebt, Hoffnung und Mut wieder aufkeimen, hängt sehr wohl auch davon ab, ob ihr eure Stimme erhebt.

Habt ihr das verstanden? Oder wollt ihr feige, schändlich und parasitär weiterleben?

Wenn ihr so lebt, ist es egal, ob ihr überhaupt lebt.

Levent Gültekin ist ein konservativer kurdischer Analytiker und Kommentator, der in der Türkei lebt. Der Text wurde von Walter Posch übersetzt.

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