Der Marsch der Industriellenvereinigung nach links geht weiter

Schon seit einigen Jahren ist ein massiver Linksdrall der Industriellenvereinigung, die einst als verlässlicher Anwalt des liberalkonservativen Großbürgertums galt, bemerkbar. Dieser Linksdrall zeigt sich besonders in der Schulpolitik: Die Industriellenvereinigung steht mit an vorderster Front, wenn es um die Gesamtschule geht, sie setzt sich für eine verpflichtende Ganztagsschule ein und plädiert für ein verpflichtendes zweites Kindergartenjahr. An die Stelle der neunjährigen Schulpflicht soll eine zeitlich unbefristete „Bildungspflicht“ treten, die erst dann erfüllt ist, wenn bestimmte vorgegebene Ziele erreicht sind.Ein gerade rechtzeitig vor dem Schulbeginn nach den Weihnachtsferien in der „Presse“ berichteter Vorstoß übertrifft alles Bisherige. Denn nun soll es auch dem traditionellen Fächerkanon an den Kragen gehen. Dies für sich genommen wäre noch nicht der Rede wert, denn immer wieder gab und gibt es von verschiedenster Seite Wünsche nach neuen Schulfächern oder auch nach der Auflösung aller Schulfächer überhaupt, um unter dem Titel der „Projektorientierung“ in Allem mit Allem und am Ende mit gar nichts zu tun zu haben.

Was genau schwebt der Industriellenvereinigung also vor, dass dies dem Verfasser einen Gastkommentar wert ist? Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Informatik und Werken (!) sollen zu einem einzigen (!) Fach mit dem zeitgeistigen Titel „Science & Technology“ zusammengefasst werden. Dass es zwischen Physik, Chemie und Biologie – um in der Sprache der Industriellenvereinigung zu bleiben – „Synergien“ gibt, ist unbestritten. So gibt es denn auch Schulen, die diese drei Fächer durchaus mit Erfolg zu einem Fach „Naturwissenschaft“ zusammengefasst haben.

Schon diese „Synergie“ ist allerdings um eine gegenüber den bislang getrennten Fächern Physik, Chemie und Biologie verminderte Stundenzahl erkauft. Nunmehr auch Mathematik und Werken in ein einziges Fach „Science & Technology“ einzubeziehen, wird das Niveau in den MINT-Fächern endgültig heben, denn wer bislang in Mathematik ums „Überleben“ kämpfte, wird seine Defizite auf diesem Gebiet mühelos durch Werken kompensieren. Wir sehen also einer Steigerung der „Technologiekompetenz“ in geradezu schwindelerregende Höhen entgegen, die sich durch gute Noten in dem neuen Fach auch handfest belegen lassen wird.

Da ist es keine Frage, dass der künftige Schüler dieses Faches bei so viel „Vernetzung“ mit Bravour die kompetenzorientierte Reifeprüfung („Zentralmatura“) in Mathematik bestehen wird! Oder hätte diese künftig ebenfalls einen Praxisteil, in welchem ein Werkstück angefertigt, gefeilt und geschliffen (oder schlicht durch ein paar eingelernte Knopfdrücke am Computer konstruiert) werden muss?

Das neue Fach „Science & Technology“ ist aber längst nicht alles, was den selbsternannten Vordenkern der Industriellenvereinigung vorschwebt. Es sollen nicht nur bestehende Fächer zusammengelegt werden, um „totes Wissen“ zu „entrümpeln“. Auch neue Fächer sollen entstehen: „Politische Bildung“ sowie „Wirtschaftsbildung“ sollen als eigene Fächer eingeführt werden. Da zwischen diesen beiden Fächern offenbar keine Synergien bestehen, um auch diese als ein gemeinsames Fach einzuführen, bedarf es wenig Phantasie, zu erahnen, in welche Richtung die Reise in dem ersteren geht.

Im Fach „Wirtschaftsbildung“ gehe es darum, nicht nur die Verbraucher-, sondern auch die Unternehmersicht zu vermitteln. So weit, so gut. Kinder, so heißt es, sollen lernen, dass es gut ist, ein Unternehmen zu gründen. Und zwar auf alltagstaugliche Weise. Zum Beispiel soll in der Schule behandelt werden, wie man ein Konto eröffnet. Das ist wahrhaft Bildung! Da kann Goethe nicht mehr mithalten! Auf die Idee, sich in die nächstbeste Bank zu begeben und zu sagen, man wolle ein Konto eröffnen, kommt so mancher durch Handy und Smartphone zum funktionellen Autisten gewordener Jugendlicher tatsächlich nicht mehr.

Warum übrigens nicht „Wirtschaftsbildung“ ebenfalls mit Mathematik zusammenlegen? Wer „up to date“ sein will und ständig von „Technologie“ schwadroniert, sollte eigentlich realisiert haben, dass die Mathematik sich um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert von der Physik emanzipiert hat und es heutzutage kaum einen Wirtschaftsnobelpreisträger gibt, der nicht (auch) Mathematik studiert hat.

Schlussendlich wird ein weiteres neues Fach angedacht: „Demokratie, Werte und Ethik“. Auch hier besteht offenbar keine Synergie mit „Politischer Bildung“, sondern es braucht ein eigenes Fach. Oder ist das in diesen Fächern zu Unterrichtende so wichtig, dass es gleich doppelt und mehrfach vermittelt werden muss?

Man erahnt jetzt auch, warum die mit fünfzehn endende Schulpflicht durch eine an das Erreichen von „Zielen“ gebundene zeitlich unbefristete „Bildungspflicht“ ersetzt werden soll: Um sicherzustellen, dass die Ziele namentlich der zuletzt genannten Fächer tatsächlich erreicht werden. Schließlich gibt es auch für heutige Arbeitgeber nichts Wichtigeres als Gender und Diversity! An Mathematik wird jedenfalls kein Schüler mehr scheitern, um hinkünftig womöglich bis neunzehn „nachsitzen“ zu müssen.

Wilfried Grießer, geboren 1973 in Wien, ist BHS-Lehrer für Mathematik, Philosoph und Buchautor.

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