ÖVP und SVP ignorieren italienische Mehrheit für Selbstbestimmung Südtirols

Nachgerade sensationell sind Ergebnisse zu nennen, die eine von der überparteilichen Bozener „Arbeitsgruppe für Selbstbestimmung“ in Auftrag gegebene repräsentative Umfrage erbrachte, welche das italienische Meinungsforschungsinstitut DEMETRA aus Mestre in ganz Italien durchgeführt hat. Demnach befürworten 71,8 Prozent der befragten Italiener das Recht auf politische Selbstbestimmung der Südtiroler. 63 Prozent wissen Bescheid über die Annexion und den im Friedensvertrag von St. Germain-en-Laye Italien zugesprochenen südlichen Teil Tirols.

Hingegen ist nur jedem dritten befragten Italiener bekannt gewesen, dass in Schottland eine Volksabstimmung über dessen Unabhängigkeit stattfindet und in Katalonien ebenfalls ein solches Referendum angesetzt ist. Trotzdem befürworten 74 Prozent der befragten Italiener ausdrücklich auch das Recht von Schotten und Katalanen auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit.

Ein Tag nach Bekanntgabe dieser demoskopischen Befunde in Bozen wurde in Meran der 29 Jahre alte Philipp Achammer zum neuen Vorsitzenden der Südtiroler Volkspartei (SVP) gewählt. Achammer ist der fünfte Nachfolger Silvius Magnagos, des „Vaters der Autonomie“, auf dem Stuhl des Parteiobmanns und zugleich der jüngste in der Parteigeschichte. Als befreundeter österreichischer Amtsträger war der um ein Jahr jüngere Außenminister Sebastian Kurz aus Wien angereist, um seinem Alters- und Gesinnungsgenossen Achammer „die Mauer zu machen“, wie der gelernte Österreicher sagt.

Ideologische Mauern müssten die beiden auch gar nicht überwinden. Denn deckungsgleich sind ihre Positionen zu Grundfragen der Südtirol-Politik. Kurz bekennt sich uneingeschränkt zum SVP-Konzept einer „Vollautonomie“. Wie oft der damit unterstrichene Zustand einer „Teil-“ oder allenfalls „Halbautonomie“ von Rom in den letzten Jahren beshnitten worden ist, lässt er, sofern er davon überhaupt eine Vorstellung hat, unter den Tisch fallen.

SVP-Pendant Achammer tut es ihm darin gleich. Geflissentlich übergehen beide das (aufgrund von Rom nicht eingehaltener vertraglicher Abmachungen) fortdauernde Gezerre, welches Bozen allein schon in den Jahren seit 2011 – von den Regierungschefs Mario Monti über Enrico Letta zu Matteo Renzi – scheibchenweise autonome Zuständigkeiten – und Südtirol zustehende, weil selbst erwirtschaftete – Finanzmittel entzog. Stattdessen schimpfen sie jene „Ewiggestrige“ und „Phantasten“, die, wie die damit immer erfolgreicher agierenden Südtiroler Oppositionsparteien, nach Auswegen aus dieser Misere im Beschreiten anderer Pfade suchen.

„Freistaats- und Unabhängigkeitsphantasien führen die Menschen in die Irre“, sagte Kurz in Meran. Achammer hat noch nie etwas anderes als ähnliche Standardsätze von sich gegeben. Weshalb sich unter den Glückwünschen, die er nach seiner „alternativlosen Wahl“ zum SVP-Obmann erhielt, auch Vorbehalte zweier STF-Jungfunktionäre befanden: „Als junger Mensch ist Achammer sicherlich ein positives Beispiel für gelungene Jugendpolitik, seine Ansichten zu Fragen der Selbstbestimmung bleiben jedoch zweifelhaft und werden die Ausrichtung der SVP weiter in Richtung Rom verschlechtern, anstatt sich von der staatlichen Fessel Italiens zu lösen.“ (STF ist die „Süd-Tiroler Freiheit“, die Eva Klotz-Partei).

Achammer und Kurz scheinen wie SVP und ÖVP, für die sie stehen, zu ignorieren, was sich in der Selbstbestimmungsfrage tut; auch und gerade in Italien, diesem seit seiner „Einigung“ in den 1860er Jahren labilen Staat. In einem Online-Referendum zum Thema Unabhängigkeit Venetiens, an dem sich 2,36 Millionen Wahlberechtigte (73 Prozent der Wählerschaft der Region) beteiligten, antworteten 89 Prozent der Beteiligten auf die Frage „Willst Du, dass die Region Veneto eine unabhängige und souveräne Republik wird?", mit einem klaren „Ja“.

In unmittelbarer Nachbarschaft zum Veneto ergreift die Lega Nord in der Lombardei eine ähnliche Initiative. Lega Nord-Chef Matteo Salvini zielt auf „ein offizielles Unabhängigkeitsreferendum“; es soll am 18. September stattfinden, dem Tag, an dem in Britannien das Referendum über Schottlands Souveränität vorgesehen ist. Auch im Südteil Tirols gab es im Herbst 2013 ein eindrucksvolles „Los-von-Rom“-Referendum, initiiert und organisiert von der Landtagspartei „Süd-Tiroler Freiheit“.

In Brüssel fand unlängst eine machtvolle und farbenprächtige „Selbstbestimmungskundgebung der Völker und Regionen Europas“ statt. Wenngleich Mainstream-medial verschwiegen, nahmen daran gut 25 000 Menschen teil und unterstrichen den Willen von Flamen, Katalanen, Schotten, Basken, Venetern, Lombarden und Südtirolern zur Selbstbestimmung. Ihr Marsch quer durch Brüssel unter der Losung „Europe, we will vote!" signalisierte, dass auf nicht zu unterschätzenden Terrains EUropas Umbrüche hin zu freien, selbstbestimmten und selbstverwalteten neuen Gemeinwesen im Gange sind, organisiert von Repräsentanten volklicher Entitäten, die sich nicht mehr mit Halbfreiheiten abspeisen lassen und also ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen wollen.

Neulich waren auf dem Markusplatz in Venedig Tiroler Fahnen inmitten eines venezianischen Fahnenmeers zu sehen, als die STF an einer großen Kundgebung für die Freiheit des Veneto teilnahm. Wiewohl von der Quästur untersagt, ließen es sich Anhänger der Unabhängigkeitsgruppierungen „Raixe Venete“, „Liga Veneta“, „Governo Veneto“ und „Nasion Veneta“ sowie die Südtiroler STF-Gruppe nicht nehmen, für ihr Motto „Süd-Tirol und Venezien sind nicht Italien“ zu demonstrieren.

Ob derlei Geschehnisse und Ergebnisse „niemanden jucken“, wie Karl Zeller, SVP-Senator, bemerkte? Nicht nur in Rom befürchtet die politische Klasse angesichts wachsender regionaler Erosionserscheinungen eine Art „Domino-Effekt“. Zumal Beppe Grillo von der „Fünf Sterne“-Partei schon begrüßend der „Auflösung Italiens in seine Einzelteile“ das Wort redet. Kurz und Achammer hingegen, ausgestattet allenfalls mit rudimentärer politischer Erfahrung, schicken sich als „junge Unvollendete“ an, quasi in Vorbildfunktion den politkarrieristischen „Paradigmenwechsel“, auch für andere Parteien zu erzwingen. So sich die „Stars“ nicht als Sternschnuppen erweisen und alsbald verglühen.

Der Autor ist deutsch-österreichischer Historiker und Publizist

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