Abweichende Meinungen? Nicht unbedingt

Wer es wagt, eine zur gesellschaftlichen Doktrin erhobene Weltanschauung öffentlichkeitswirksam zu kritisieren, muss mit starkem Gegenwind rechnen. Zielt die Kritik auf eine der erfolgreichsten Missionsbewegungen des 20. Jahrhunderts, ist besonderer Mut gefragt. Schnell gelangt der freie Diskurs an seine Grenzen und der Kritiker in die Defensive.

Er muss sich dann den Vorwurf gefallen lassen, intolerant und politisch reaktionär zu sein. Die emotionalen Reflexe laufen immer darauf hinaus, für den Schutzbedürftigen Partei zu ergreifen. Und Benachteiligung für sich und andere zu reklamieren ist allemal einfacher, als sie mit Argumenten zu entkräften. Dabei sind es oft einzelne Vorfälle oder Wortmeldungen, welche die medialen Wogen hochgehen lassen und kollektive Hysterien auslösen.

Nicht, dass es in der Gesellschaft keine Benachteiligungen von Einzelpersonen und auch von Gruppen gäbe. Nicht, dass es nicht legitim wäre, darauf aufmerksam zu machen und für Veränderungen einzutreten. Nur müssen in der öffentlichen Diskussion auch abweichende Meinungen in gleichem Maße ihren Platz haben. Zu entscheiden, ob Benachteiligungen tatsächlich struktureller Natur sind oder bloß vorgeschoben oder gar vorgetäuscht, erfordert eine sehr differenzierte Betrachtungsweise, die sich nicht mit ein paar Schlagworten abtun lässt. Dasselbe gilt auch für Gründe und Ursachen von Ungleichbehandlungen, die in vielen Fällen ihre Berechtigung haben.

Beim Umgang mit abweichenden Meinungen erweist sich unsere Gesellschaft als viel weniger offen, als sie zu sein vorgibt. Ihr Selbstbild als aufgeklärtes und liberales Gemeinwesen, in dem rückhaltlose Meinungsfreiheit herrscht, ist mit Versuchen, Menschen mundtot zu machen und persönlich anzugreifen, unvereinbar. Erfahrungsgemäß gelangt die Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen dort rasch an ihr Ende, wo es um tatsächliche oder vermeintliche Rand- und Opfergruppen der Gesellschaft geht.

Ganz gleich, ob von Zuwanderern, Zigeunern, Moslems, Juden, Homosexuellen, Behinderten, Kindern oder Frauen – die im Übrigen weder eine Rand- noch eine Opfergruppe darstellen – die Rede ist: Jeder, der sich öffentlich zu diesen Gruppen äußert und dabei gewisse Spielregeln verletzt, läuft Gefahr, sich heftigen, teils unsachlichen Attacken ausgesetzt zu sehen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn er seine Stimme wider den Zeitgeist erhebt.

Wir dürfen aber nicht vergessen: Nicht jede Äußerung über Asylmissbrauch ist per se ausländerfeindlich; nicht jede Kritik am Staat Israel oder an internationalen jüdischen Netzwerken hat antisemitische Gründe; die Ablehnung des Gender mainstreaming als politische Kategorie oder der Homo-Ehe ist nicht unbedingt sexistisch; die Forderung nach strengeren Erziehungsmaßnahmen heißt nicht, der Gewalt in der Erziehung das Wort zu reden; ebenso wenig zeugt die Befürwortung der Euthanasie automatisch von einer menschenfeindlichen Gesinnung.

Dennoch lauert hinter jeder Ecke der Vorwurf des Rassismus, Sexismus oder der Fremdenfeindlichkeit. Meist wird dabei die Person selber in den Mittelpunkt der Angriffe gerückt, statt ihre Argumente zu entkräften. Der Vorwurf der falschen Gesinnung reicht aus, um jemanden zu stigmatisieren. Solche Argumente „ad hominem“ sind aber nicht nur in jeder Diskussion verpönt, sondern auch für jede Form der Kommunikation äußerst hinderlich.

Trotzdem ist es üblich, dass die Öffentlichkeit nicht nur mit heftigen persönlichen Angriffen reagiert, sondern versucht, Menschen mit abweichendem Gedankengut mitunter beruflich und in ihrem Ansehen Schaden zuzufügen. Dazu sei nur an folgende Beispiele aus den vergangenen Jahren erinnert.

  • Anfang der 90-er Jahre versuchte man in Deutschland, den australischen Philosophen Peter Singer wegen seiner bioethischen Positionen öffentlich mundtot zu machen. Teilweise militante Proteste verhinderten damals zahlreiche geplante Veranstaltungen und Singer wurde nebst mehreren deutschen Professoren bedroht und auch physisch attackiert. Als 2011 die Giordano-Bruno-Stiftung Singer den Ethikpreis verlieh, wurde er von Hubert Hüppe, dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, öffentlich als „Tötungsphilosoph“ bezeichnet; zudem verglich der CDU-Politiker Singers Thesen mit nationalsozialistischem Gedankengut.
  • Der deutsche SPD-Politiker Thilo Sarrazin wurde im Jahr 2010 de facto seiner Funktion als Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank enthoben, nachdem er ein Buch zum Thema Integration veröffentlicht hatte.
  • Die Nachrichtenmoderatorin Eva Herman verlor im Jahr 2007 ihren Posten bei der ARD nach der Veröffentlichung eines Buches zur Familienpolitik und sah sich daraufhin unseriösen öffentlichen Attacken ausgesetzt.
  • Für einen Nicht-Juden wäre es praktisch undenkbar, ein Buch wie Die Holocaust-Industrie (2001) zu schreiben. Sein Verfasser, der Historiker Norman Finkelstein, wurde heftig angegriffen und in Deutschland von mehreren Veranstaltungen wieder ausgeladen.
  • Am 4. April vergangenen Jahres veröffentlichte der Literaturnobelpreisträger Günter Grass ein Gedicht unter dem Titel „Was gesagt werden muss“, in dem er die Politik Israels als Bedrohung für den Weltfrieden kritisierte. Umgehend wurde Grass Antisemitismus und rechtsextremes Gedankengut vorgeworfen.

Nein, es geht mir wirklich nicht darum, die genannten Werke und Autoren in irgendeiner Weise zu kommentieren oder gar ihren Inhalt zu bewerten. Weder steht es mir zu, Singers Utilitarismus einer fundierten Kritik zu unterziehen, noch beziehe ich hier einen Standpunkt für oder gegen Sarrazin, Herman, Finkelstein oder Grass. Eines muss aber betont werden: Die auch durch provokante, dem Mainstream widersprechende Thesen ausgelösten Diskurse müssen erstens sachlich bleiben und dürfen zweitens nie die Person hinter den Argumenten angreifen.

Das ist für eine Demokratie unerlässlich. Ihre Grundlage ist der permanente Streit, die kritische Auseinandersetzung auch und gerade mit Dingen, über die scheinbar ein breiter Konsens herrscht. Dafür ist eine grundsätzliche Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen unverzichtbare Voraussetzung.

Wer einwendet, die Offenheit der Gesellschaft wäre dadurch gerade bewiesen, dass alle die genannten Personen ja die Möglichkeit gehabt hätten, öffentlich das Wort zu ergreifen, verkennt Folgendes: Die Meinungsfreiheit ist nicht erst dann eingeschränkt, wenn öffentlich Bücher verbrannt oder unliebsame Autoren eingesperrt werden. Bereits dort, wo der Ruf laut wird, man solle Menschen verbieten, sich öffentlich zu äußern oder wo Menschen mit entwürdigenden Reaktionen und beruflichen Nachteilen rechnen müssen, sobald sie ihre Meinung äußern, wo öffentlich dotierte Institutionen den Dialog verweigern aus Angst, medial an den Pranger gestellt zu werden, dort ist die Gedankenfreiheit ernstlich in Gefahr.

Wenn wie jüngst eine Kolumnistin Thilo Sarrazin mit hasserfüllten Verunglimpfungen angreift, indem sie ihn eine „lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur“[i] nennt, die „das Niedrigste im Menschen“[ii] anspreche; wenn der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft sagt: „Mit Sarrazin sollte sich niemand mehr in eine Talkshow setzen“[iii], dann entlarvt sich all das Gerede von Toleranz und Weltoffenheit, von kritischem Denken und Pluralismus als das, was es tatsächlich ist: ein Trugbild.

In Wirklichkeit hat ein „machtvolles Meinungskartell das Kommando über die politische Gesinnung“[iv] übernommen, meint der CDU-Politiker Jörg Schönbohm. Dass dies durchaus mit persönlichen Risiken verbunden sein kann, ersieht man auch daran, dass in den USA angehenden Lehrern der Abschluss einer besonderen Versicherung empfohlen wird. Schönbohm dazu: „Wie Ärzte, die sich gegen eventuelle Kunstfehler versichern können, sollten sich Lehrer gegen den Vorwurf absichern, sie hätten den falschen Text oder den falschen Ton im Unterricht gewählt.“[v]

Ginge es dabei bloß darum, dass in Sachen Toleranz zwischen Anspruch und Realität ein viel tieferer Graben klafft, als wir immer dachten, dann wären solche Auswüchse für die Gesellschaft vielleicht verkraftbar, mögen sie für den Einzelnen auch noch so schmerzhaft sein. Besonders pikant aber und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt durchaus gefährlich wird die Sache, wenn klar wird, dass zwischen Politikern und Medienvertretern auf der einen sowie der Bevölkerung auf der anderen Seite eine offenbar zunehmende Diskrepanz in deren Weltsichten herrscht. Immerhin werden etwa Sarrazins Thesen von sehr vielen Menschen geteilt.

Tomas Kubelik, 1976 in der Slowakei geboren, wuchs in Stuttgart auf und studierte Germanistik und Mathematik. Kürzlich erschien im Projekte-Verlag Halle sein Buch „Genug gegendert! Eine Kritik der feministischen Sprache“, in dem er die Argumente der feministischen Sprachkritik überzeugend und allgemeinverständlich entkräftet.

Endnoten

[i] Kiyak, Mely: Liebe Wissensgesellschaft! – In: Frankfurter Rundschau, 19.5.2012

[ii] ebda.

[iii] Hauck, Stefan; Hellemann, Angelika; Uhlenbroich, Burkhard: „Mit Sarrazin sollte sich niemand mehr in eine Talkshow setzen“ – In: Bild am Sonntag, 20.5.2012

Online im Internet:

http://www.bild.de/politik/inland/politiker-deutschland/mit-sarrazin-sollte-sich-niemand-mehr-in-eine-talkshow-setzen-24227970.bild.html

[iv] Schönbohm, Jörg: Politische Korrektheit. Das Schlachtfeld der Tugendwächter, Waltrop und Leipzig 2010, S. 5

[v] Schönbohm, S. 38

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