Schule und Bildung 2030

Die derzeit im Gang befindliche Bildungsdebatte verheißt nichts Gutes. Sie verbeißt sich in Ideologien, und im Eifer des blindwütigen Hindreschens auf den ungeliebten Berufsstand der Lehrer hat sie die eigentlichen Protagonisten (die Schüler) und die mit diesen gemeinsam Hauptbetroffenen (die Familien) völlig aus dem Blick verloren. Würde man von der resignativen Annahme ausgehen, dass sich das im zuständigen Ressort vorherrschende engstirnige parteipolitische Denken tatsächlich mittelfristig durchsetzt, müsste man befürchten, dass wir im Jahr 2030 dort landen, wo viele der vermeintlichen Vorbilder (PISA-Sieger und andere ob ihres ungegliederten Schulsystems hochgejubelte Länder) heute stehen: bei einer Jugendarbeitslosigkeit von 17,7 Prozent (Finnland) oder gar über 50 Prozent wie im Gesamtschulland Spanien (gegenüber 8,3 Prozent in Österreich); bei Nachhilfe-„Orgien“ wie in Japan oder Singapur, wo im Hauptproblemfach Mathematik 60 Prozent der Jugendlichen Nachhilfe erhalten (bei uns sind es 13 Prozent); und bei einer Zweiklassengesellschaft durch Massenflucht der wohlhabenderen Hälfte der Bevölkerung aus dem öffentlichen Schulwesen in teure Privatschulen wie in Großbritannien.

Aber erfreulicherweise gibt es genug Stimmen der Vernunft unter den (echten!) Bildungsexperten, genug Engagement in der Lehrerschaft, genug Aufbruchsstimmung an vielen Schulstandorten – und genug wirtschaftlichen Überlebensinstinkt bei jenen Mitbürgern, die auch mögliche Konsequenzen auf den ersten Blick populärer Maßnahmen mitzudenken imstande und willens sind – dass die Hoffnung auf eine an den Menschen und nicht an Systemen orientierte Schulpolitik zumindest nicht ganz in den Bereich des Absurden zu verweisen ist.

Wie sieht nun ein solches Kontrastszenario zur oben beschriebenen Horrorvision aus, wenn wir, positiv denkend, von der Annahme ausgehen, dass in einer familienfreundlicher gewordenen Gesellschaft das Wohl der Kinder – aller Kinder aus allen Bevölkerungsschichten – wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt?

Eine derartige (hoffentlich nicht utopische) Vision setzt vor allem einen gesellschaftlichen Umdenkprozess voraus: Neben dem oben angesprochenen höheren Stellenwert für die Familien, die bei der Erziehung der Kinder vom Staat zu unterstützen, aber nicht zu entmündigen sind, gilt es, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass alle Kinder gleich viel wert sind und der Mensch nicht erst beim Maturanten (oder gar erst beim Akademiker) beginnt.

Ist dies einmal geschafft, muss als logische Konsequenz die auch jetzt schon in der Bevölkerung unterschwellig vorhandene (aber nicht hinreichend artikulierte) hohe Wertschätzung für das Handwerk einen sichtbaren Niederschlag in der bewussten und gezielten Weiterentwicklung des dafür maßgeblichen dualen (d.h. gegliederten) Schulsystems finden. Das Berufsschulwesen, um das uns Rest-Europa schon heute beneidet, muss zu einer von allen als gleichrangig anerkannten Alternative zu jenen bestehenden Bildungseinrichtungen werden, die zur Matura führen.

Positive Konsequenz eines derartigen Bewusstseinswandels wäre, dass Kinder nicht mehr scharenweise unter Missachtung ihrer spezifischen (z.B. handwerklichen oder künstlerischen) Begabungen und Interessen durch falsche Schultypenwahl zur Erlangung einer für sie wertlosen Hochschulberechtigung „vergewaltigt“ werden. Die schockierende Akademikerarbeitslosigkeit in jenen Ländern, die als direkte Folgeerscheinung eines ungegliederten einheitlichen Schulsystems mit den von manchen so neidisch bewunderten, schwindelerregenden Akademikerquoten „auftrumpfen“, sollte hier hilfreiche Denkanstöße liefern.

Sollten sich eines Tages auch noch die zuständigen Politiker und die meinungsbildenden Medien dazu durchringen, aus diesen real vorliegenden Zahlen die richtigen Schlüsse zu ziehen, stünde der Schlachtung dieser heiligen Kuh nichts mehr im Wege. Statt durch Absenkung der Eingangsschwelle den Weg zu einer „Matura für alle“ und einem „Hochschulstudium für alle“ einzuebnen, könnte man sich dann ganz offen zum Ziel einer weiteren qualitativen Verbesserung der Fachausbildung bekennen.

Wenn in einer Gesellschaft das Prinzip gelten soll, dass alle Menschen gleich viel wert sind, dann muss sich die Unterschiedlichkeit der Menschentypen, will man allen gleichermaßen gerecht werden, in einer entsprechenden Vielfalt des Bildungsangebots spiegeln; und jeder dieser differenzierten Bildungseinrichtungen muss die gleiche Achtung seitens der Gesellschaft und die gleiche „Zuwendung“ seitens der Politik entgegengebracht werden. Für einen funktionierenden Staat sind qualitätsvolle Ausbildungsstätten genauso wichtig wie erstklassige höhere Schulen.

Für die jungen Menschen ist entscheidend, dass ihnen die Möglichkeit einer freien, von den eigenen Interessen und Begabungen gelenkten Wahl zwischen diesen beiden Wegen offen steht. Wenn gut ausgebildete Facharbeiter gegenüber „allgemein gebildeten“ Maturanten in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung nicht mehr diskriminiert werden und gleiches gesellschaftliches Ansehen genießen, kann jedes Kind frei von Prestigeüberlegungen den Schultyp besuchen, der ihm den größten persönlichen „Mehrwert“ verheißt.

Sind die Familien erst einmal vom Druck des derzeit noch weithin grassierenden (und von den Vorkämpfern der Gleichheitsideologie genüsslich instrumentalisierten) „Klassendenkens“ befreit, werden sie die Kraft aufbringen, sich auch in der Frage der Erziehung ihrer Kinder vom Diktat des Staates zu emanzipieren. Keine Regierung, die wiedergewählt zu werden hofft, wird es sich mehr leisten können, die Vielfalt unterschiedlicher Familienbedürfnisse zu ignorieren. Dass gut ausgestattete ganztägige Schulformen dringend benötigt werden und allen Familien nach Bedarf zur Verfügung stehen müssen, damit alle Staatsbürger, gleich welchen Geschlechts, die gleiche Chance auf Berufsausübung vorfinden, stößt schon heute auf breites Verständnis.

Aber gerade im Sinne eines richtig verstandenen Gleichheitsideals muss ebenso allen die gleiche Freiheit der Wahl offen stehen, ihre Kinder am Nachmittag gegebenenfalls auch selbst zu betreuen. Ein vergleichender Blick auf die Wirtschaft legt hier den Schluss nahe, dass auch im Bildungsbereich im Jahr 2030 die Renaissance eines Trends zu „mehr Staat“ ohnedies nicht mehr ernsthaft zu befürchten sein wird.

Was ist also realistischerweise von einer Schule der Zukunft zu erwarten?

Beim Versuch, diese Frage emotionsfrei zu beantworten, sollte man nicht von der aktuellen Bildungsdiskussion ausgehen. Sie wird von Personen und „Instanzen“ dominiert, denen eine Legitimation in Form eigener Erfahrung oder zumindest Einsicht in die Szene fehlt. Sie bewegt sich auf einer abstrakt-theoretischen Ebene und dreht sich um Systeme statt um Menschen. Es handelt sich um Sandkastenspiele, die mit „Pädagogik“ im Sinne des griechischen Wortes („das Kind führen, begleiten“) nichts zu tun haben.

Will man sich einen Eindruck verschaffen, welche Trends an den wirklichen Schauplätzen des Geschehens vorherrschen, tut man gut daran, sich im Bereich der aktuellen Lehrerweiterbildung umzusehen. Dabei wird man feststellen, dass das einstmalige Reizwort vieler strammer Ideologen, die Begabungsförderung, geradezu zu einem Modeslogan geworden ist. In dieser Entwicklung kommt eine allmähliche Fokusverschiebung von Systemen und Strukturen zu den von diesen betroffenen Menschen zum Ausdruck. Die Flut an einschlägigen Fortbildungsangeboten, der Nachdruck, mit dem Schulentwicklungsprojekte von vielen Schulleitungen forciert werden, der Enthusiasmus, mit dem diese (vor allem von jüngeren Lehrergenerationen) aufgegriffen werden und die dadurch vielerorts ausgelöste Aufbruchsstimmung lassen hoffen, dass die Schule des Jahres 2030 eine „Schule der Person“ sein wird, wie sie Gabriele Weigand, Vizerektorin der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, in ihrem 2004 erschienenen Buch gleichen Titels beschreibt:

„Nimmt man die Person des Schülers als Prinzip und Maßstab für Erziehung, Unterricht und Schule, so kehren sich die im herkömmlichen Denken weit verbreiteten Prioritäten um: Personale Pädagogik kann nicht vom System her gedacht werden, auch nicht von Standards, von Lehr- oder Bildungsplänen und nicht von der Didaktik und Methodik her, sondern von den Potentialen der einzelnen Schülerinnen und Schüler. Bildungsprozesse gehen vom Einzelnen aus und führen auf ihn zurück. Das individuelle Kind, der einmalige Heranwachsende werden zum Bezugspunkt des pädagogischen Denkens und Handelns in Erziehung, Unterricht und Schule.“

Die in diesem Buch entwickelte „pädagogische Philosophie“ weist heute neu eingeleiteten Schulentwicklungsprojekten und Weiterbildungsmaßnahmen die Richtung. Bis zum Jahr 2030 wird wohl auch schon die allgemeinpädagogische Grundausbildung der Lehrer so weit entwickelt sein, dass in ihr eine Philosophie des Förderns vermittelt wird, die im obigen Sinne von den Hauptpersonen des Geschehens, den Schülern, ausgeht und auf diese zurückführt.

Da es mittlerweile wissenschaftlich erwiesenes Gemeingut ist, dass „Begabung“ ein dynamisches Potential ist, das in jedem Menschen genetisch grundgelegt ist, das aber der „Stimulation“ (Förderung durch Forderung) bedarf, um nicht zu verkümmern, wird das gleiche unverbrüchliche Recht jedes Kindes (egal, ob hoch-, „normal“- oder unterdurchschnittlich begabt) auf Förderung seiner jeweiligen Begabungen außer Streit stehen. Optimale, begabungsadäquate Förderung bedeutet aber auch ein Einsetzen der jeweiligen alters- und personengerechten Maßnahmen zum frühestmöglichen Zeitpunkt; das heißt im Klartext: noch vor dem Schuleintritt, also bereits im Kindergarten, und vor diesem noch in den Familien.

Auch diese werden sich also einer gewissen „Weiterbildung“ (in Form von durch die Schulen angebotenen und von den Eltern bewusst „geholten“ einschlägigen Informationen) nicht entziehen können. Die Förderung der Heranwachsenden geht eben alle Erziehungs- und Bildungsinstanzen auf allen Ebenen an. Und Begabungsförderung als zentrales Anliegen jedes Schulprogramms (natürlich in unterschiedlichen, begabungs- und interessensadäquaten Ausformungen) ist in allen Schulformen nicht nur möglich, sondern verbindliches Gebot.

Die einzige Grundvoraussetzung, die unterschiedslos in allen Bildungseinrichtungen gelten muss, ist die im oben stehenden Zitat beschriebene pädagogische Haltung. In ihr spiegelt sich die Wertschätzung einer Gesellschaft für die Heranwachsenden, die nicht als „Objekte“ eines standardisierten Systems zu nützlichen Vollzugsorganen konditioniert werden, sondern als Subjekte ihres eigenen Lernprozesses („Autoren ihres eigenen Lebens“, in Gabriele Weigands Worten) die personale Kompetenz erwerben sollen, ihr eigenes Leben „Sinn“- und „Wert“-voll zu gestalten.

Von einer solchen „Schule der Person“, die sich als prägendes Paradigma durch alle bestehenden Schulformen hindurch ziehen kann und soll, darf sich die Gesellschaft des Jahres 2030 eine zunehmende Humanisierung des Leistungsbegriffes und in deren Gefolge ein allmähliches Konvergieren der beiden Wege, Ausbildung und Bildung, erhoffen.

[Dieser Text ist in teilweise verstümmelter Form unter folgendem Titel erschienen:
„Schule der Person. Eine zukunftsorientierte Schule muss den Menschen und nicht das System in den Mittelpunkt stellen“;  im „Lesebuch der Zukunft – Familie 2030“, Festschrift zu 60 Jahre Katholischer Familienverband, Wien: Kath. Familienverband Österreichs, 2013 (Brennpunkt Familie Nr. 99/100,
www.familie.at, S. 68-71). Der Text erscheint hier insbesondere in lesbarer, also nicht gegenderter Form, wobei wie immer klar ist, dass das grammatikalische Geschlecht nichts mit dem biologischen zu tun hat.]

Dr. Günter Schmid: Gymnasiallehrer (1968 – 1991), Tätigkeit in der Lehrerausbildung an den Universitäten Wien und Salzburg (1971 – 1992), Direktor des Wiedner Gymnasiums und Gründungsdirektor der Sir-Karl-Popper-Schule (1991 – 2009); seit 2010 Mitarbeiter des Instituts TIBI der KPH Wien/Krems und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats und Vortragender im Rahmen des Master-Lehrgangs „Gifted Education“ an der Donau-Universität Krems; Mitglied des Leitungsteams des Internationalen Weiterbildungsinstituts „eVOCATIOn“ (Karlsruhe, Würzburg, Wien, Basel), Betreuung von Schulentwicklungsprojekten im In- und Ausland; Gründer (2011) und Vorsitzender der „Bildungsplattform Leistung & Vielfalt“.

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