Gottes Werk und Gosnells Beitrag

Die Vorstellung, dass nicht ich, und nur ich allein, über meinen eigenen Körper bestimmen kann, war Albtraum-erregend. Für die Aktivisten, die vor Abtreibungskliniken standen und die dort „Hilfe suchende“ Frauen ansprachen, hatte ich nur tiefste Verachtung übrig. Wie selbstgerecht und anmaßend mussten Menschen sein, die sich zum Sprachrohr von irgendwelchen, zwei Monate alten Zellhaufen aufschwangen. Was für eine unverschämte Einmischung in die Privatsphäre und Selbstbestimmung von erwachsenen Frauen. So können eigentlich nur fanatisch religiöse, sich selbst moralisch überhöhende Heuchler handeln.

Mit Alter kommt Mäßigung. Man hört manchmal zumindest zu. Auch den Abtreibungsgegnern, die überzeugt sind von der Einmaligkeit und Heiligkeit des menschlichen Lebens. Sie sind getragen von dem Verlangen, die Schutzlosen zu schützen und die Schwachen vor Unbill zu bewahren. Das sind keine schlechten Eigenschaften, denkt man sich. Die Ehrlichkeit in ihrem Anliegen ist spürbar. Wahrlich keine bösen Menschen, aber sie machen es sich zu leicht oder sind zumindest verblendet. Es ist doch immerhin noch mein Körper, über den sie bestimmen wollen? Ich bin es doch, der dick wird, geschwollene Knöchel bekommt, von Übelkeit heimgesucht wird und den dann am Ende der Strapazen die Schrecken und Schmerzen der Geburt erwarten? Andere Menschen sollen das Recht haben, mich dazu zu zwingen?

Vor Jahren erfuhr ich dann erstmals von Spätabtreibungen, Genick-Durchschneiden, Gehirn-Absaugen, Vergiften des Fruchtwassers. „Wie barbarisch!" schoss es mir durch den Kopf. Aber das sind die Ausnahmefälle, oder? Da geht es um das Leben der Mutter oder der Fötus ist nicht lebensfähig oder schwer behindert. Wie viele Frauen würden überhaupt im fünften, sechsten Monat oder sogar später ein gesundes, lebensfähiges Kind abtreiben wollen?

In Amerika, wo bundesstaatenabhängig unterschiedliche Auflagen bezüglich Schwangerschaftsabbruch gelten, tatsächlich unfassbar viele. Jedes zehnte abgetriebene Baby ist Opfer einer Spätabtreibung. Das bedeutet, dass 100.000 Babys pro Jahr einen schmerzvollen Tod erleiden. Wie das im schlimmsten Fall in der Praxis aussieht, kann man in dem zur Zeit in Philadelphia stattfindenden Gerichtsverfahren gegen den Abtreibungs-„Arzt“ Gosnell erfahren, der wegen Mordes an einer Patientin und sieben lebend geborenen Babys angeklagt ist. Sein Arbeitsplatz: ein Schlachthaus getarnt als Abtreibungsklinik. Unterschiedliche Behandlungsräume für weiße und schwarze Patientinnen. Legale und illegale Spätabtreibungen stehen an der Tagesordnung. Im ganzen Gebäude Futterreste und Kot von herumstreunenden Katzen. Die Gliedmaßen und Köpfe der abgetriebenen Babys in Säcken auf den Gängen, in Kühlschränken und im Keller. Uringeruch in der Luft. Möbel, Behandlungsliegen, Wände blutverschmiert. Weinen und Schmerzensschreie von Patientinnen, bei denen in Vorbereitung auf die Abtreibung die Geburt schon künstlich eingeleitet wurde. Ruhigstellung durch Überdosen an Beruhigungsmitteln, verabreicht von unqualifiziertem Personal. Eine 30 Jahre währende Hölle.

Haben Sie irgendwo darüber gelesen? Nein? Rassismus, Machtmissbrauch, Drogenhandel und Mord an Kindern, haben – zynisch gesprochen – keinen Nachrichtenwert? Die für Journalisten reservierten Plätze im Gerichtssaal bleiben leer. Jeder Amoklauf an einer amerikanischen High-School findet den Weg in nationale und internationale Medien, dieser Infantizid aber nicht? Warum?

Tja, das frage ich mich auch und ich glaube, die Antwort zu kennen. Da der Beginn menschlichen Lebens nicht durch rein naturwissenschaftliche Mittel festgesetzt werden kann, obliegt diese rechtliche Definition der gesellschaftlichen und politischen Entscheidungsfindung. Somit sind weniger die Erkenntnisse und Definitionen von Biologen, Chemikern oder Philosophen ausschlaggebend als vielmehr die öffentliche Meinung. Ein gewichtiger Faktor zu deren Beeinflussung ist die Verwendung und Nichtverwendung bestimmter Begrifflichkeiten, wie die derzeit vorherrschende Sprachregelung zeigt: ein Fötus ist maximal die Vorstufe zu einem Menschen. Wenn es sich um eine gewünschte Schwangerschaft handelt, wird aus dem Fötus ein Baby. Handelt es sich um eine ungewünschte Schwangerschaft, bleibt der Fötus ein Fötus, ob innerhalb oder außerhalb der Gebärmutter, ob lebensfähig oder nicht.

Ein perfektes kleines Mädchen. Die Händchen zu kleinen Fäusten geballt. Das Gesichtchen ebenmäßig und ruhig. Was für eine Schönheit, was für ein Wunder der Schöpfung. Zwischen dem zarten, dunkelbraunem Lockenflaum im Nacken der fleischig-rote Todesschnitt der Schere, des bevorzugten Mordinstruments Gosnells.

Ein perfekter kleiner Bub. Eingewickelt in einen Plastiksack. Seine Haut vom Gift Rivanol kränklich gelb. Die eigentliche Prozedur hat er noch überlebt. Instinktive Lebensgier, er kämpft und trotzt dem Tod. Dann wird er in ein anderes Zimmer gebracht, dunkel und kalt. Er wird nicht zugedeckt, bekommt nichts zu trinken und seine Schreie verhallen minuten-, stundenlang ungehört. Bis die Kräfte erschöpft sind. Bis die kleine Seele nicht mehr kann.

Jeder, der diese Bilder sieht, denkt an Babys, nicht an Föten. Jeder, der diese Bilder sieht, denkt an Tod und Schmerz, nicht an Frauenrechte. Jeder, der diese Bilder sieht, denkt an nie stattfindende Geburtstagsfeiern und Abschlussbälle, nicht an verpasste Karrierechancen eines Frauendaseins. Diese Bilder neben Zeugenaussagen der Mitarbeiter und Patientinnen könnten nicht nur die Praxis der Spätabtreibungen, sondern die bis dato akzeptierten Sprachkonventionen in Gefahr bringen. Abtreiben oder töten, Bauch oder Gebärmutter, Fötus oder Baby, Frauenrechte oder Menschenrechte … könnten sie, wenn darüber berichtet würde. Das wird aber nicht geschehen, denn es steht nicht mehr und nicht weniger als die Oberhoheit über die Begrifflichkeiten in der Abtreibungsdebatte auf dem Spiel und damit die Legitimität der Abtreibung per se.

Für mich persönlich war schon lange vor dem Gosnell-Fall klar, dass ich mir immer die falschen Fragen gestellt habe. Es geht hier nicht ausschließlich um meine Rechte als Frau. Ich habe die Entscheidungshoheit über meinen Körper. Eine Schwangerschaft passiert ja nicht ohne mein Zutun, also habe ich im Wissen um die Folgen meines Handelns auch die Konsequenzen zu tragen. Eine mögliche Konsequenz ist neues Leben, eine einmalige DNA und damit das gesamte, unvorhersehbare Spektrum zukünftigen Seins und Schaffens, ausgestattet mit Menschenwürde und Menschenrechten. Diese Rechte, die ich selbst auch besitze und die mir nicht durch demokratische Entscheide, royale Erlässe oder wissenschaftliche Erkenntnisse zugesprochen wurden, sondern mir als Individuum innewohnen, besitzt auch das Menschlein in meinem Körper. Das Recht auf Leben ist höher einzustufen als das Recht auf Entscheidungshoheit über den eigenen Körper.

Die fortschreitende Technik (Überlebensfähigkeit der Babys außerhalb des Mutterleibes) wird es in Zukunft unmöglich machen, uns weiterhin vor der dringlichsten ethischen Frage zu verstecken: Wie schützen wir die Allerschwächsten unserer Gesellschaft, denen das pure Lebensrecht aus Mangel an elterlicher (vor allem mütterlicher) Liebe und Schutz abgesprochen wird? Vielleicht, indem als erster Schritt über die nicht zu duldenden, kriminellen Vorfälle in der Abtreibungspraxis genauso intensiv berichtet wird wie über andere Verbrechen.

Agnes Piller ist selbständige Bautechnikerin in Wien. 

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