Toleranz ist mehr als ein Kinder- und Geduldspiel

Gabriel Marcel – J.-P. Satres Gegenspieler im Pariser Nachkriegsszenario für Existenzphilosophie, Metaphysik und Literatur –  verdanken wir eine unüberbietbar präzise Begriffsdefinition für dieses Grundwort: „Das Wesen der Toleranz ist eine aktive Anti-Intoleranz". Dieser Spruch mag sich vielleicht beim flüchtigen Zuhören als Wortspielerei anhören, bietet aber eine kräftige Aussage zur Diskussion.

Was es eigentlich heißt „tolerant: lateinisch: geduldig, ertragend, ausharrend, gelassen" zu sein, ist heute ebenso abgegriffen, vorsätzlich verstellt und bis zum Kern korrodiert („zernagt"), wie unsere gesamte politische Sprache. Der katholische Scharfdenker Marcel gibt der Toleranz in einer echt neusokratischen Manier eine unerwartete, dialektische Wendung. Ein Schlüsselwort zum wahren Humanismus aus griechisch-römischer und christlich-aufgeklärter Überlieferung, die niemals auf das Naturrecht verzichten können wird.

Die naturrechtliche Grund- und Existenzfrage ist dabei: Darf es in Opposition zur Sozialen Demokratie auch eine Bürgerlich-Liberal-Konservative Demokratie geben? Hans Kelsen war ein Steigbügelhalter für die Alt-Vorbilder aller Wiener Sozialisten: Nämlich für den in Ritterlichkeit wenig geübten Karli Marx und seine Kameraden wie die lange Liste von Friedrich Engels, Sigmund Freud, Otto Bauer, Karl Renner… zeigt.

Von langer Hand vorbereitet hat man das „Politisch Korrekte" der Sozialen Internationale in der EU von heute auf Biegen und Brechen bereits durchgesetzt. Auch mit pseudodemokratischer Intoleranz und antiliberaler Gewalt der Straße! Die perfekt inszenierte Verhetzung gegen den Ball des Wiener Korporationsringes in der Hofburg am 27. Januar ist nur ein seichtes Beispiel dafür, wie das Monopol der Sozialen Demokratie verwaltet wird. Es gibt aber auch schwerer wiegende Verleumdungen und mediale Hinrichtungen von Andersdenkenden.

Naturrecht und Reine Rechtslehre

Ganze Heerscharen von Politologen, Soziologen, Psychologen, Künstlern, Konjunkturwahrsagern, Hirnforschern, Journalisten und andere professionelle Meinungsmacher arbeiten in der EU daran, dass alle unsere traditionell geladenen Worte und Werte vergessen, umgedeutet oder zumindest lächerlich gemacht werden. In einer erstaunlich offenherzigen, man möchte beinahe sagen, fast schon undiplomatisch anmutenden Selbstbloßstellung hat der ORF die wunden Punkte aufgezählt, an denen sich die Rotgrünen Geister besonders sensibel bis zur Rage erregen können: Es handelt sich offenbar um christlich-traditionelle Werte und um das noch nicht erloschene Nationalgefühl der Magyaren  –  die Österreichern schon längst als uneuropäisch untersagt worden sind. Wörtlich wird es gescholten, dass

„Die neue Verfassung [von Ungarn] in der Präambel Verweise auf Gott und das Christentum [beinhaltet], das die Nation einen [könnte]. Kritiker werten das als diskriminierend für Atheisten und Gläubige anderer Religionen. Auch traditionelle Familienwerte werden in der Verfassung betont, wodurch Kritiker Benachteiligungen für Homosexuelle und Alleinerziehende befürchten. Abtreibungen könnten verboten werden, da die neue Verfassung vorschreibt, das Leben des Fötus sei vom Moment der Empfängnis an zu schützen." (Vgl. http://news.orf.at/stories/2053825/2053848/)

Was für ein moralischer Trümmerhaufen ist aus dem Europa der Vaterländer geworden, wo Homosexuelle, Alleinerzieher und Abtreiber dem natürlichen Modell der Familie vorgezogen werden? Denn an dieser Verfassung, vom Naturrecht aus gesehen, wäre nicht einmal das geringste Jota zu beanstanden! Im Gegenteil. Freilich den Rechtspositivisten haben die Ungarn damit keinen Gefallen erwiesen. Aber ist der Positivismus lediglich die Auffassung der Wiener Rechtsschule eines Professors namens Hans Kelsen (1881-1973) und die Meinung seines Auftragsgebers namens Karl Renner (1870-1950), der immer darauf bestand als vollblütiger Marxist zu gelten?

Warum sollte sich ein souveräner Nachbarstaat einer fremden Rechtsauffassung beugen, dessen Bürger immer noch christlich-traditionelle Prämissen politisch hochhalten und zur Geltung bringen wollen? Oder ist Kelsens moralfreier, reiner Positivismus vielleicht der Inbegriff „der Demokratie und aller Menschen- und Frauenrechte" schlechthin nach der Diktion des Wiener Bürgermeisters, der sich freilich bereits seiner dritten Ehe erfreut? Klar, das ist eine Privatangelegenheit, die niemanden etwas angeht, auch wenn sie öffentlich erwähnt wird.

Aber ebenso klar ist, wohin die allgemeine Kelsen'sche Moralverhütung Europa geführt hat. Bekanntlich hat er als Mastermind der sogenannten Reinen Rechtslehre auch jeden Begriff der Gerechtigkeit zur Leerformel erklärt: Welches Problem hat er damit für die Verfechter der sogenannten „Sozialen Gerechtigkeit" geschaffen?!  Bis dato hat noch niemand erklären können, was die Soziale Gerechtigkeit eigentlich sei.

Jedenfalls befinden wir uns auf dem Abhang eines aussterbenden Kontinents, der früher das Abendland hieß und die Wiege der Zivilisation war, solange seine Völker noch unter der Regierung des Naturrechts gedeihen durften. Das Naturrecht hat dem Faustrecht des Stärkeren Jahrhunderte lang (so gut wie möglich, freilich ohne Perfektion) standgehalten. Vor dem zwanzigsten Jahrhundert gab es zwar Kriege und Friedensverträge – aber keinen Ausrottungskrieg auf Weltmaßstab und keinen falschen Frieden zur Fortsetzung des vorhergehenden Krieges.

Das Allgemeine Natur- und Existenzrecht von Individuen, Gruppen und Nationen wurde ja bereits von den ersten Sokratikern bis zu den paläoliberalen, englischen Whigs beschworen. Heute wird es nur mehr von der Katholischen Kirche hochgehalten, denn die sogenannten Menschen- und Frauenrechtler verfahren selektiv: Der Anfang und das Ende des physischen Lebens wird der Manipulation anheimgestellt.

Mir linker Ideologie in den Untergang

Wie der konservativ-katholische Politiker und Historiker Plinio Correa de Oliveira (1908-1995) aus Sao Paulo nachgewiesen hat: Erst die Französischen und Russischen Revolutionäre haben das Rechtsverständnis der Alten Welt mit ihren Vor- und Nachteilen endgültig abgeschafft. Und dafür eine Vernichtungsindustrie installiert. Freilich, die National-Sozialen aus Deutschland und Deutschösterreich waren nach dem Frieden von Versailles (1919) nicht die ersten in dieser Zeit- und Rangordnung  – sondern erst die dritten nach den Franzosen und Russen. Sie blieben aber hinter ihren Konkurrenten an Grausamkeit nicht zurück.

Im Zeitalter der Internationalen Sozialen Demokratie sollte es endlich anders werden? Leider nicht aus ganzem Herzen. Heute kommen die Todfeinde nicht mehr unter die Guillotine oder in ein Vernichtungslager. Sie werden medial hingerichtet. Wie es aus der gegenwärtigen politisch-moralischen Dekadenz zu ersehen ist, ist es möglich bloß mit Rufmord und Lügen erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. Lord John Maynard Keynes (1883-1946), seines Zeichens Erzvater aller Sozialen Schuldenmacher und Inflationäre, bestand darauf – wohl dem Österreicher Kelsen nicht unähnlich –, ein „Inmoralist" zu sein. Und sind heute nicht praktisch alle Europäischen Politiker (wenigstens Halb-) Kelsenianer und (Halb-) Keynesianer? So schlittern wir von Krise in Krisen. Moralisch und finanziell.

Der Perfektionismus der Politisch Korrekten, die anstelle von Kindern nur Schulden machen können, schafft schon alle Hürden. Aber nur um den Preis der "Rache der Natur". Homosexuelle, Alleinerzieher, Abtreiber und ihre Wortführer haben immer weniger Kinder und in geometrischer Progression immer weniger Enkel. Auch wenn ich diese Tatsachen ohne Diskriminierung und Wertung beobachte: Und die Welt freilich nicht politisch korrekt, sondern statistisch unbeirrbar sehe. Die Zahlen lügen weniger als die Politiker.

Der von den Perfektionisten eingeschlagene Weg führt somit konsequent zur Dezimierung des eigenen Bestandes. Etwas hellsichtigere Soziale Demokraten  – wie Thilo Sarrazin –  haben das ebenfalls eingeräumt. Freilich Sarrazin war und blieb ein treuer Sozialgesinnter seiner Partei, wenn auch etwas häretischer, ungehorsamer und realistischer als der Durchschnitt. Er ist weder ausgetreten noch ausgeschlossen worden. Rechtsphilosophische Argumente der Natur hat er vermutlich weder studiert noch ins Treffen geführt, aber die pragmatischen Konsequenzen ihrer Missachtung hat er doch wahrgenommen. Über Statistiken der Dekadenz ist es müßig zu diskutieren. Sie werden von Naturgesetzen exekutiert wie die Gravitation.

Die wahrhaft Intoleranten

In Zusammenfassung:

  1. Jedes keimende Leben hat das Natürliche Recht in einer intakten Familie aufzuwachsen. Alle physischen Väter und Mütter haben die natürliche Pflicht, ihren heranwachsenden Kindern von Anfang an beizustehen und für eine zivilisierte, allenfalls auch für eine christliche Erziehung zu sorgen. Staatliche Kindergärten und Schulen sind nur subsidiäre Behelfsmittel zu diesen Grundrechten und Grundpflichten: Was die kleinere (natürliche) Einheit zu leisten vermag, ist der größeren („sozialen") Einheit der Verstaatlichung vorzuziehen. Nicht umgekehrt!
  2. Nach J.-J. Rousseau's Sozial-Libertärer Vertragsrechtsauffassung (deren Schattenseiten seit der Französischen Revolution in ganz Europa grassieren) ist alles hemmungslos erlaubt, was mehrheitsfähig ist. Das Töten ungeborenen Lebens ist kein Mord mehr, sondern lediglich eine libertäre Option: Eine undramatische Wahlmöglichkeit der selbstherrlichen Menschen- und Frauenrechtler, denen das keimende Leben nicht mehr heilig ist.
  3. Ist es nicht merkwürdig, dass zum Rotgrünen Syndrom der Libertären Weltanschauung so kunterbunte Sachen gehören, wie einerseits eine groß angelegte Kampagne gegen die Konstitution eines souveränen, wenn gleich konservativen Nachbarlandes – und andererseits die Diskriminierung des Hofburgballes einer unverdächtigen akademischen Jugendgruppe, nur weil sie nicht der Linie der Österreichischen Hochschülerschaft und dem Dekalog der Sozialen Internationale folgt. Der kleinste gemeinsame Nenner für die Verbindung so unterschiedlicher Sachverhalte hat nur einen möglichen Namen: Intoleranz und Hass gegen Andersdenkende.

Die Marcel'sche Definition der Toleranz als Anti-Intoleranz lässt sich nun nach dieser illustrierten Einleitung sonnenklar erläutern. Toleranz bedeutet gewiss nicht Förderung für Gegner und Feinde aller Abstufungen. Toleranz schließt keinen (noch so scharfen) Wettbewerb von Werten und Zielen aus. Toleranz verneint aber sich selbst immer, wann und wo sie intolerant wird, wo sie mit allen Mitteln unfair für das Eigene kämpft, und das Existenzrecht der Anderen in Frage stellt.

An diesem Umschlagspunkt kulminieren „Natur- und Seinsrechte" in eine untrennbare Identität, die nur von totalitären Schächtern ignoriert werden kann. Jemanden totwünschen oder in der Tat auch totschlagen ist oft nur ein hauchdünner Unterschied. Einfacher ausgedrückt: Toleranz ist eine großmütige Ritterlichkeit nicht nur dem ritterlichen Gegner, sondern in extremen Grenzsituationen – christlich gesprochen – sogar dem Todfeind gegenüber.

Allem Anschein nach ist Toleranz eine uralte Tugend der Zivilisation, welche ohne das Naturrecht einfach unerträglich wird. Intoleranz dagegen war das Grundwort der Ideologen im zwanzigsten Jahrhundert. Damit wir wieder zivilisierter (d. h. bürgerlicher) werden, müssten wir vor allem alte Feindbilder (nicht unsere Feinde und Konkurrenten) begraben:

  • Junge Mitbürger noch im 21. Jahrhundert des „Faschismus" zu zeihen, ist gelinde gesagt nicht nur eine Dummheit, sondern vor allem ein Anachronismus. Außerhalb des traurigen Kontextes der italienischen Geschichte von anno dazumal entbehrt diese Brandmarke jeder sinnvollen Bedeutung.
  • Die historischen „Nazis" in Deutschland und Österreich möge man mit vollem Vor- und Nachnamen als „Sozialisten" benennen, denn das waren sie wirklich, mit aller Inbrunst und Begeisterung.
  • Und „Kriminelle" von heute mögen überführt und ihrer verdienten Strafe zugeführt werden. Überall und jederzeit. Aber die pauschale Faschismuskeule unentwegt zu schwingen, dürfte mit dem Verhetzungparagraphen auch schwer in Einklang zu bringen sein. Das Gedenken an die Befreiung der Konzentrationslager dürfte ebenfalls dafür Anlass sein, auch uns selbst vom Lagerdenken zu befreien.

Dipl.-Ing. Dr. Endre Bárdossy war Universitätsassistent im Institut für Wirtschaft, Politik und Recht an der Universität für Bodenkultur Wien, anschließend 23 Jahre lang o. Universitätsprofessor für Volks- und Betriebswirtschaftslehre in San Salvador de Jujuy bzw. Mendoza (Argentinien) an landwirtschaftlichen Fakultäten.

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