Schicksalstaten, nicht Schicksalsdaten

Ist der 9. November ein Glückstag oder ein Katastrophendatum für die Deutschen? Wie ein Blick in die Medien beweist, wird für diesen Tag am liebsten die Bezeichnung "Schicksalsdatum der Deutschen" gewählt. Und in der Tat fanden Ereignisse, die das politische und menschliche Schicksal der Deutschen jeweils tiefgreifend veränderten, just an diesem 9. November statt: 1918 war es das Ende des Kaiserreichs, 1923 der gescheiterte Putsch Hitlers in München, 1938 die schreckliche "Reichskristallnacht", 1967 der Startschuss der "68er Bewegung" und schließlich 1989 der Fall der Berliner Mauer und damit das Ende der deutschen Teilung.

Dass all dieses zum gleichen Kalendertag geschah, könnte einen beinahe zum Zahlenmystiker machen. Wenn nicht... ja, wenn nicht hinter dem Gerede vom "Schicksalsdatum" eine subtile Form sprachlicher Verdrängung stünde. Denn beim Begriff Schicksal schwingt etwas Unausweichliches, von Menschen Unbeeinflussbares mit. Dass aber vielmehr handelnde Menschen – machthungrige, verzweifelte, brutale, verblendete, aber auch idealistische und verantwortungsbewusste – jeweils die Verantwortung tragen, wird kaschiert.

So rief zum Beispiel der Sozialdemokrat Philip Scheidemann am Samstag, dem 9. November 1918 von einem Fenster des Reichstagsgebäudes den versammelten Massen zu: "Der Kaiser hat abgedankt. Die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue, es lebe die Deutsche Republik!" Dabei wusste der Kaiser noch gar nichts von seiner Abdankung. Es war der damalige Reichskanzler Prinz Max von Baden, der völlig eigenmächtig die Abdankung des Kaisers verkündete und Friedrich Ebert, Vorsitzender der SPD das Amt des Reichskanzlers übergab. Um 14 Uhr hielt Scheidemann aus dem Stegreif die historische Rede. Er musste improvisieren, um dem Konkurrenten Karl Liebknecht zuvorzukommen, der um 16 Uhr die "sozialistische Republik Deutschland" ausrufen würde.

Vom Balkon des Berliner Schlosses fordert Liebknecht die Versammelten zum Schwur auf die freie sozialistische Republik und die Weltrevolution auf. Doch auch deren Scheitern war keineswegs "Schicksal", sondern geht auf einen Befehl Eberts an die Freikorps zurück, deren brutalem Vorgehen 156 Menschen zum Opfer fielen.

Im untrennbaren Zusammenhang mit den Ereignissen im Jahr 1918 stehen der Putschversuch Hitlers 1923 in München, die Pogromnacht 1938 und der Attentatsversuch von Georg Elser 1939 – ebenfalls alle an einem 9. November.

Der "Marsch auf Berlin" endete, bevor er noch begonnen hatte, an der Feldherrnhalle in München. Hitler wurde zur Festungshaft verdonnert. Dennoch münzte die Nazi-Propaganda diese peinliche Niederlage zur Legende um. Sie wurde verklärt und Jahr für Jahr mit inszenierten Erinnerungsfeiern zelebriert.

So etwa zum 15. Jahrestag am 9. November 1938 im Alten Rathaus in München. In der Nacht entlud sich der aufgestaute Hass gegen die Juden mit äußerster Brutalität. Und wieder führte nicht das Schicksal, sondern Reichspropagandaminister Joseph Goebbels die Regie: Mithilfe der SS und SA setzte er die Ausschreitungen in Gang. Mindestens 400 jüdische Menschen wurden allein in dieser einen Nacht ermordet, 1.406 Synagogen und Betstuben niedergebrannt, Wohnungen und Geschäfte zerstört, jüdische Gemeindehäuser und Friedhöfe vernichtet. Über 30 000 Juden wurden verhaftet und in KZs verschleppt.

Ein Jahr später explodierte im großen Saal des Münchner Bürgerbräukellers eine Bombe. Acht Menschen starben, mehr als 60 wurden verletzt – nur der nicht, dem das Attentat gegolten hat: Adolf Hitler hatte wenige Minuten vor der Detonation die Halle verlassen. Der Tischler Georg Elser, der den Anschlag verübte, um einen zweiten Weltkrieg zu verhindern, kam ins KZ, wo er kurz vor dem Kriegsende noch schnell von den Nazis ermordet wurde. Wieder war es die Propaganda, die aus diesem Zufall ein Ergebnis der "Vorsehung" machte. Das Schicksal Deutschlands unter Hitler, das 1000jährige Reich, erschien unausweichlich.

Die tausend Jahre waren gottlob recht kurz und 1945 zu Ende. Allerdings kam dann die deutsche Teilung und im Ostteil entstand eine neue Diktatur.

In der Bundesrepublik macht sich nach der Aufbauphase eine neue Bewegung breit: Die außerparlamentarische Opposition (APO) und die Studentenrevolte. Viele Motive mischen sich zu einem Gemenge aus berechtigter Kritik, Forderungen nach studentischer Mitbestimmung, Wohn-Kommunen, sexueller Befreiung, Flower-Power, Happenings und – RAF.

An jenem 9. November 1967 soll im Rahmen einer würdigen Feier an der Universität Hamburg die Amtsübergabe des bisherigen Rektors an seinen Nachfolger stattfinden. Die Magnifizenzen schreiten mit Talar, Amtskette und Halskrause ins Audimax. Da entrollen plötzlich die Studenten Gert Hinnerk Behlmer und Detlev Albers ein Transparent mit der Aufschrift: "Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren". Der Zweizeiler schreibt Geschichte. Ein Strang der "68er" driftet in den Linksterrorismus ab und führt zum "deutschen Herbst".

Die Protagonisten wie Behlmer und Albers hingegen fanden im vorher vielgeschmähten Establishment Unterschlupf; der eine als Staatsrat der Hamburger Kulturbehörde, der andere als Politologie–Professor.

Die DDR hingegen hatte andere Sorgen. Die zweite Diktatur auf deutschem Boden, die von der Sozialistischen Einheitspartei beherrschte DDR, hatte vier Jahrzehnte lang 16 Millionen Menschen praktisch eingekerkert. Schließlich vermorschte und vermoderte die sozialistische Gerontokratie von innen und wurde von den ökonomischen, sozialen und finanziellen Entwicklungen hoffnungslos überrollt. Und wieder waren einzelne Akteure verantwortlich, dass sich am 9. November 1989 die Mauer öffnete und das arg geschrumpfte, geteilte Nachkriegs-Deutschland die Einheit in Freiheit wieder erlangte.

Auf einer internationalen Pressekonferenz an diesem Donnerstag verkündet Politbüromitglied und Regierungssprecher Günter Schabowski überraschend und beinahe nebenbei einschneidende Reiseerleichterungen für Privatreisende, die "sofort, unverzüglich" in Kraft treten. Noch in derselben Nacht strömen Tausende an die Grenze nach Westberlin. Auch hier waren es menschliche Akteure und nicht Schicksalsgötter, die die Fäden zogen: die Grenzsoldaten, die ohne eindeutigen Befehl die Übergänge öffneten. Von den politischen Akteuren wie Helmut Kohl, George Bush oder Mikail Gorbatschow einmal ganz abgesehen.

In einem Text des Deutschen Historischen Museums heißt es: "Der 9. November war und ist kein Tag, an dem das "Schicksal" es gut oder schlecht mit den Deutschen meint. Wie an jedem anderen Tag auch, sind die Menschen für ihr Handeln verantwortlich – aber ebenso auch dafür, was sie zu tun unterlassen." Dem ist nichts hinzuzufügen.

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