Anfang Dezember wurde der langjährige Herausgeber der "Aula", Martin Pfeiffer, sieben Jahre nach Einstellung der "Aula" in ebendieser Funktion nach einem großangelegten Strafprozess zu vier Jahren unbedingter Haft wegen NS-Wiederbetätigung verurteilt. Prompt wird die gesamte "Aula" nicht mehr bloß als "rechtsextrem", sondern als "neonazistisch" tituliert, obwohl selbst das DÖW erklärt, dass Autoren der "Aula" keineswegs allesamt rechtsextrem, geschweige denn Neonazis sind. Im folgenden interessiert jedoch die Architektonik des juristischen Vorgehens in diesem Verfahren.
Strafbar nach dem Verbotsgesetz können nach gefestigter Judikatur nicht nur "Einzelhandlungen" sein, "die schon für sich als typische Betätigung im Sinne des Nationalsozialismus zu erkennen sind" (wie etwa der Hitlergruß), sondern auch "Handlungskomplexe" selbst dann, "wenn die einzelnen Teilakte des betreffenden Gesamtverhaltens – isoliert betrachtet – noch nicht als typisch nationalsozialistisch zu beurteilen sind" (OGH 14.07.2004, 13 Os28/04). Ganz in diesem Sinne sollte die publizistische Wirkung der "Aula" von den Geschworenen in ihrer Gesamtschau beurteilt werden.
Dieses von vielen als Maßstäbe setzend gefeierte Vorgehen, dessen Anwendung nun auch auf rechtsstehende Verlage (und letztendlich wohl auf die gesamte FPÖ) gefordert wird, bedeutet jedoch im Umkehrschluss, dass ein bislang Unbescholtener ex post wegen bis zu zwanzig Jahre zurückliegender Handlungen ins Gefängnis muss, die in ihrer Mehrheit zum Zeitpunkt ihrer Begehung noch nicht einmal entfernt Gegenstand von Strafverfahren waren und bei isolierter Betrachtung auch heute noch zu keiner Verurteilung führen würden! Rechtssicherheit für die Rechtsunterworfenen sieht zweifellos anders aus, als Jahre später unverhofft für Dinge zur Rechenschaft gezogen zu werden, die allesamt selbst bei strengerer heutiger Betrachtung für sich allein straflos wären.
Ebendies hat beim Verbotsgesetz durchaus Methode, obwohl gerade hier angesichts der hohen Strafdrohungen präzis formulierte Tatbestände gefordert wären. Man geht hier so vor, als würde ein über Jahre verstreutes, sagen wir, 300-maliges mit dem Finger sanft auf die Wange Tippen in der Gesamtschau eine Ohrfeige ergeben, wobei diese Gesamtschau hinwiederum alle 300 Teilakte selbst schon zu Ohrfeigen macht. In ebendiesem Sinne wurden auch im "Aula-Urteil" der lange Tatbegehungszeitraum und die vielen Delikte als strafverschärfend gewertet. Für zukünftige Prozesse kommt noch hinzu, dass die hohen Strafdrohungen des Verbotsgesetzes für lange Verjährungsfristen sorgen, sodass auch zeitlich weit auseinanderliegende "Teilakte" hinterrücks zu einem nun auf einmal strafbar sein sollenden Gesamtverhalten kompiliert werden können.
Dass es dadurch zu einer de facto rückwirkenden Bestrafung kommt, tut der formalen Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens keinen Abbruch, denn strafbar ist die Betätigung im NS-Sinn seit 1947. Dieser lapidaren Feststellung steht jedoch entgegen, dass der Inhalt dessen, was unter NS-Wiederbetätigung fällt, gerade in den letzten Jahrzehnten massivst erweitert wurde – man denke nur an die diversen "Eiernockerlprozesse" oder an die Ausdehnung der Holocaust-Verharmlosung auf Vergleiche in der Coronazeit.
Gerade "Gesamtbildprozesse" wie der nun vorliegende waren und sind ein Versuchsballon, neue Inhalte erstmals unter das Verbotsgesetz zu subsumieren, weil diese ja bloß Teilakte zu sein brauchen, die erst in einer Gesamtschau strafbar sein würden. Aufgrund dieser Gesamtschau selbst schon Straftaten, können künftig auch kleinere Handlungskomplexe und schließlich auch Einzelhandlungen verurteilt werden, so, wie die eine oder andere heutzutage verurteilte Einzelhandlung vor 30 Jahren bloß Teilakt war. Genau in diesem Sinne setzt das Aula-Verfahren in der Tat neue Maßstäbe, die auch die Rechtssicherheit neu definieren werden, nämlich als die Sicherheit jedes rechten Publizisten, dafür eines Tages auch verurteilt werden zu können. Denn die "Betätigung im nationalsozialistischen Sinn" kennt keine feste Grenze nach außen. Auch die Nationalsozialisten waren z.B. gegen die Abtreibung, obwohl sie abertausende geborene Kinder ermorden ließen.
Kommen wir damit zu den Inhalten, die nunmehr als strafbar angesehen werden: Angeklagt waren auch "Attacken" auf das Verbotsgesetz in der "Aula", als ob es keine Argumente gegen dessen Anwendungspraxis gäbe oder als ob Argumente zumindest in der "Aula" nicht als solche gelten können. Konkret wurde etwa die Bewerbung des Buches "Politische Verfolgung in Österreich" aus 2010 verurteilt, das erstmals eine Anwendungsgeschichte des NS-Verbotsgesetzes (mitsamt Judikatur) darbot.
Natürlich, so kann man beschwichtigen, wurde nicht das Buch verurteilt, sondern bloß dessen Bewerbung als Beleg für die "Gesamttendenz" der "Aula". Schon damit wäre bereits Kritik am Verbotsgesetz kriminalisiert, aber klarerweise wird – auch in Justizkreisen! – suggeriert, dass mit der Strafbarkeit der Bewerbung auch der Inhalt des Buches selbst strafbar sei. Und genau diese Suggestion ist wohl auch erwünscht, um künftig schon kleinteiligere Bezugnahmen auf dieses Werk als Teilakt zu werten, wie etwa, aus dem Buch zustimmend zu zitieren, es anderen zu empfehlen oder zugänglich zu machen. Auch kann der Besitz dieses Buches (oder auch der "Aula") seit der jüngsten Verbotsgesetz-Novelle schon ohne erfolgte Straftat eingezogen werden.
Auch der Vorwurf, Holocaustleugnern Raum gegeben zu haben, betrifft in Wahrheit, Raum zur Kritik an der Strafverfolgung gegeben zu haben. Verurteilt wurde etwa ein Interview mit dem 2006 verurteilten David Irving. In diesem Interview wird kaum abermals der Holocaust bestritten worden sein, denn sonst hätte dies zeitnah zu einem Gerichtsverfahren geführt. Quellen zu dem "Aula-Prozess" zufolge führte bereits die Wortwahl "Meinungsverbrechen" zur Verurteilung auch dieses Textes, denn es werde suggeriert, dass die Bestreitung des Holocausts eine "Meinung" sei, und es sei die strafrechtliche Verfolgung heruntergespielt worden. Wiederum: Schon Kritik am Verbotsgesetz wird kriminalisiert, zumal der Terminus "Meinungsäußerungsdelikt" auch die widerwärtigsten Behauptungen in einem weiten Sinn als "Meinung" subsumiert.
Selbstredend wurden auch jene Texte verurteilt, in denen befreite KZ-Häftlinge als "Landplage" tituliert worden waren, obwohl ein derartiger Text zuletzt noch zu einer Verfahrenseinstellung geführt hatte. Schwer objektivierbare Tendenzen dieser Texte überlagern die legitime historische Fragestellung, wieweit befreite KZ-Häftlinge vereinzelt tatsächlich Straftaten begangen haben (so, wie man im öffentlichen Raum auch kaum je von Verbrechen der Besatzungsmächte nach 1945 an Zivilistinnen und Zivilisten hört). Kriminalisiert wurde (nebst vielem Anderen) auch die Bewerbung etlicher weiterer frei erhältlicher Bücher aus dem revisionistischen Milieu.
Was den Vertrieb von Büchern betrifft, hat jüngst ein weiterer Verbotsgesetz-Prozess eine breite Öffentlichkeit erfahren, nämlich der gegen einen renommierten Wiener Antiquar, der sechzig aus einem Nachlass erworbene historische Bücher aus der NS-Zeit unkommentiert auf seiner Webseite zum Verkauf angeboten hatte. Wurde in solchen Situationen (z.B. Flohmarkt-Verkäufe von NS-Devotionalien), wenn überhaupt, das gelindere Abzeichengesetz herangezogen, so ist die Linie der Justiz schon seit längerer Zeit, auch dann "Wiederbetätigung" vorzuwerfen, wenn ein unbestimmt Anderer mit einer ihm zugänglich gemachten NS-bezogenen Sache auch nur theoretisch Wiederbetätigung begehen könnte. Ein in der Wohnung vorhandenes NS-Abzeichen auf einem Bild darf daher nicht frei sichtbar sein, denn es könnte Andere zur NS-Ideologie inspirieren. Auch ein Buch mit dem Konterfei Hitlers dürfe daher nicht einfach so feilgeboten werden.
Wenn allerdings die Staatsanwältin dem Antiquar vorwirft, er habe die Sorgfaltspflicht verletzt, macht sie das NS-Verbotsgesetz (wie auch der "Falter" richtig bemerkt) zu einem Fahrlässigkeitsdelikt, das dieses definitiv nicht ist. Nachdem die zum Verkauf angebotenen Bücher auch in Universitätsbibliotheken und teils sogar in der Bibliothek des Obersten Gerichtshofs für jedermann einsehbar sind, wäre es aber auch absurd, in der bloßen Denkmöglichkeit, dass ein Neonazi diese entlehnt und ideologisch bestärkt werden könnte, einen vom Gesetz geforderten bedingten Vorsatz der NS-Wiederbetätigung zu ersehen.
Mit Recht warf sich daher der Zeitgeschichtler Oliver Rathkolb, dessen Gutachten die Grundlage für die Anklage des "Aula"-Herausgebers war, für den Antiquar als Zeuge in die Schlacht. Im Unterschied zum Antiquar hatte die "Aula" diverse Bücher immerhin aktiv beworben. Auch hier waren allerdings nicht die Rezensionstexte, sondern erst manche der beworbenen Bücher selbst problematisch, die Pfeiffer offenbar allesamt auf strafbare Passagen (oder wiederum nur Tendenzen?) überprüfen hätte sollen. Es bleibt so immer beim Diffusen des Milieus oder der Gesinnung, das den Unterschied macht, auch wenn es nunmehr strafbar sein könnte, im Zusammenhang mit dem Verbotsgesetz von einer "Gesinnungsjustiz" zu sprechen.
In einem freien Staat müssen auch die Irvings und Honsiks das Recht haben, Strafgesetze zu kritisieren. Die Gefährdungen, die das "Aula"-Urteil namentlich durch die Kriminalisierung bereits von Kritik am Verbotsgesetz nach sich zieht, liegen auf der Hand: Gemäßigte Konservative werden sich hinkünftig erst recht nicht mehr kritisch zum Verbotsgesetz äußern, diesbezügliche Texte können erst recht nur mehr in sehr weit rechtsstehenden Medien veröffentlicht werden. Die eigentlich immer notwendigere Kritik findet zusehends genau nur noch dort statt, wo sie mühelos weggewischt, delegitimiert bis kriminalisiert werden kann. Gleichzeitig geht mit der Tendenz zum Einziehen von Büchern, historischen Tonträgern u.Ä. auch authentisches Wissen über die NS-Zeit verloren, das zu vermitteln (nachdem es familiär kaum noch verhanden ist) durch den Schulunterricht staatlich monopolisiert wird – was es auch von dieser Seite erleichtert, alles Erdenkliche als NS-typisch qualifizieren zu können.
Jene Mechanismen der Verfolgung, die die türkische oder die russische Justiz unrühmlich auszeichnen, wie etwa dies, die Strafverteidiger und öffentlichen Kritiker bestimmter Strafprozesse gleich als nächstes nach ebendenselben Paragrafen auf die Anklagebank zu zitieren, könnten sich auch in Österreich breitmachen. Auch in der Türkei wird man im Übrigen den Prozess gegen Erdoğans einstigen Herausforderer Imamoğlu als reines und heiliges Recht ausgeben und nicht als Foulspiel, aufkommende Konkurrenz zu stoppen. Was Österreich betrifft, reicht schon der Schaden, der angerichtet ist, wenn immer größere Bevölkerungsgruppen das Vertrauen in Rechtsstaat und Justiz verlieren und sich der Gedanke breitmacht, dass nur noch jene Kräfte, die man vielleicht mit guten Gründen gar nicht an der Spitze sehen wollte, manche Entwicklungen stoppen können.
Wilfried Grießer, geboren 1973 in Wien, ist Philosoph und Buchautor. Eine vieles bereits antizipierende Analyse findet sich in dessen Monographie: "Verurteilte Sprache. Zur Dialektik des politischen Strafrechts in Europa", Franfurt am Main 2012.












Mindestens sollte man die Praxis abstellen, Teilakte, die erst durch eine "Gesamtschau" Wiederbetätigung ergeben sollen, so zu behandeln, als wären es allesamt schon für sich Straftaten.
Andererseits zieht es die so sich ergebende hohe Strafhöhe nach sich, dass z.B. selbst Florian Klenk vom "Falter" die Strafe von 4 Jahren unbedingt für Martin Pfeiffer kritisiert (Falter 51/25, S.7).
Wird aber nichts bringen, außer dass die Instanz vielleicht die Strafhöhe ein wenig absenkt. Die Justiz wird auf Zuruf derselben Linken mit derartigen "Gesamtbild"-Prozessen weitermachen und z.B. auch gegen den Ares-Verlag oder die eine oder andere Burschenschaft ermitteln.
Die diversen Liederbücher, die für sich selbst nicht strafbar sind, weil schon einmal gar nicht bewiesen ist, dass die inkriminierten Lieder tatsächlich gesungen wurden, und dann auch nicht, konkret von wem, können natürlich jederzeit ebenfalls als "Teilakt" verwertet werden, ebenso wie die Einladung bestimmter Referenten usw.
Jede Niederlage der Justiz wie z.B. bei den "Landplage"-Texten kann so Jahr(zehnt)e später immer noch in einen späten Sieg verkehrt werden.
Irgendwann wird jeder, der in diesem Blog kommentiert, Probleme mit dem Regime bekommen.
"Regime" ist hoffentlich in Ordnung, weil der ORF ja die Regierung Trump auch schon als "Regime" bezeichnet.
Schade! War eine schöne, freie Zeit über mehrere Jahrzehnte. Leider sind wir wieder im 19.Jh gelandet.
Die Richterschaft weiß auch in unseren so aufgeklärten Zeiten, welche Urteile von den Machthabern gerne gesehen werden.
Hoch lebe die richterliche Unabhängigkeit!
Wieder hat der neue Faschismus eine Schlacht gewonnen, diesmal an der juridischen Front.