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Gastkommentare

Das Unrecht im Rechtsstaat – am Beispiel des Falles Leon Apler

13. November 2025 11:56 | Autor: Volker Schütz
4 Kommentare

Vor wenigen Tagen veröffentlichte Andreas Unterberger unter dem Titel "Das Unrecht im Rechtsstaat" einen Beitrag, der sich kritisch und journalistisch perfekt recherchiert mit gewissen Zuständen in der österreichischen Justiz befasste, insbesondere, was eine mögliche Beeinflussung durch die Politik anbetrifft. Nun gibt es in Österreich bereits seit längerem das Bestreben, die Justiz einer Reform zu unterziehen, allerdings existieren über die Art und Weise, wie dies zu bewerkstelligen wäre, verschiedene Ansichten. Aber eben diese verschiedenen Ansichten gilt es zu diskutieren, um im Sinne der Verfassung und nicht zuletzt der Menschen im Land die bestmögliche Lösung zu finden. Auch eine solche – sachliche – Diskussion gehört unverzichtbar zum Wesen eines demokratischen Rechtsstaates.

Die grundlegenden Elemente eines Rechtsstaates – Gewaltenteilung, Grundrechte, Rechtsschutz, unabhängige Gerichte usw. – sind natürlich in Österreich wie in jedem anderen europäischen Rechtsstaat vorhanden und auf die eine oder andere Weise in der Verfassung verankert. Und doch gibt es immer wieder Fälle, in den man sich zurecht fragen muss: Wie konnte das passieren, wo doch das System eigentlich so perfekt erdacht und verwirklicht wurde?

Die Antwort muss man nicht lange suchen. Es gibt in diesem ausgeklügelten System Unwägbarkeiten, und das sind die auch als Staatsdiener bezeichneten Menschen, die dazu da sind, die perfekt erdachte Ordnung aufrecht zu erhalten und täglich mit Leben zu füllen. Sobald einer oder mehrere dieser Menschen beginnen, sich bei ihrer Tätigkeit nicht mehr (nur) als Staatsdiener zu fühlen, die an nichts außer an Recht und Gesetz gebunden sind, wenn sie beginnen, ihre eigenen Meinungen, ihre Befindlichkeiten und ihre persönlichen Überzeugungen in ihre Tätigkeit einzubringen, entstehen im System Störungen und Reibungsverluste, die zu Fehlentscheidungen führen, und hinter jeder Fehlentscheidung – das darf man nie außer Acht lassen – verbirgt sich möglicherweise ein menschliches Schicksal. Eine solche Einbringung sachfremder Erwägungen darf also eigentlich nicht passieren, aber sie passiert trotzdem, denn sie ist auf jeden Fall eines: Sie ist menschlich.

Indes sieht das System "Rechtsstaat" auch für solche durch rein menschliches Fehlverhalten oder Versagen zustande gekommenen Abweichungen vom sogenannten rechten Weg Kontroll- und Korrekturmechanismen vor. Zu nennen wäre da natürlich zunächst die Gewaltenteilung, deren drei Säulen Legislative, Exekutive und Judikative nicht nur den Staat tragen, sondern sich im besten Fall auch jederzeit gegenseitig prüfen und überprüfen und Missstände abstellen sollen. Und innerhalb der rechtsprechenden Gewalt gibt es dafür den Instanzenzug, der dazu dient, Urteile und Beschlüsse eines Untergerichts einer Nachschau durch einen übergeordneten Spruchkörper zu unterziehen und die Entscheidung erforderlichenfalls zu korrigieren.

Ich hatte vor etwas über einem Jahr die schwere Aufgabe übernommen, bei der Erstellung des Buches "Der Fall Leon – 522 Tage unschuldig hinter Gittern" als Co-Autor zu fungieren. Es ging bei diesem authentischen Fall um den sechsjährigen Leon Apler, der an einem frühen Morgen im August 2022 in der Kitzbüheler Ache ertrank. Seit seiner Geburt litt Leon am Syngap-Syndrom, einem Gen-Defekt, der zu einer stark verzögerten motorischen Entwicklung führt und bei Leon Ursache für ständige Unruhe, Schlaflosigkeit und epileptische Anfälle war. In der Nacht zum 28. August 2022 war sein Vater Florian Apler wie schon unzählige Nächte zuvor mit seinem Sohn zunächst im Auto unterwegs, schob ihn dann im Buggy bei strömendem Regen durch die beleuchtete Innenstadt von St. Johann i.T. in der Hoffnung, dass Leon irgendwann wie ebenfalls schon viele Male zuvor einschlafen würde. In dieser Nacht sollte alles anders kommen. Florian Apler wurde – möglicherweise in der Absicht, ihn zu berauben – auf dem Rückweg zum Auto von hinten niedergeschlagen. Als er von herbeigerufenen Rettungskräften aus seiner Bewusstlosigkeit geholt wurde, lag Leons Buggy umgestürzt und leer auf dem Spazierweg, Leon war verschwunden. Er wurde wenig später tot aus der zu diesem Zeitpunkt reißenden Kitzbüheler Ache geborgen. Die Obduktion ergab Tod durch Ertrinken.

Noch am selben Tag begannen die zuständigen Ermittlungsbehörden mit ihrer Arbeit. Ging man zunächst noch offiziell von einem Raub mit Todesfolge aus, konzentrierten sich die Beamten mutmaßlich bereits nach wenigen Tagen auf den Vater Florian Apler als Täter. Andere mögliche Spuren wurden nur noch halbherzig verfolgt, Aufnahmen von Überwachungskameras rund um den Tatort nur teilweise gesichert und die Scherben der mutmaßlichen Tatwaffe, einer Flasche, nicht einmal zur Hälfte aufgesammelt, wodurch möglicherweise wichtige Spuren unwiederbringlich verloren gingen.

Ein halbes Jahr später wurde Florian Apler festgenommen und landete für die nächsten 522 Tage in Untersuchungshaft. Ich kannte die Familie bereits seit mehr als zwei Jahren, wusste, wie liebevoll Florian Apler mit seinem Sohn umging und war entsetzt über diesen Schritt der Behörden. Jeder Versuch seiner Anwälte, entlastende Momente in das Verfahren einzubringen, wurde von der Justiz unerbittlich abgeschmettert. Wenige Tage nach der Festnahme glaubte dann ein IT-Ermittler im LKA Tirol, den entscheidenden Beweis gefunden zu haben. Florian Apler hatte, wie man seinem Smartphone entnahm, einen Monat vor Leons Tod neben 22 anderen Suchanfragen auch 13 Sekunden lang nach dem Begriff "ohnmächtig" gegoogelt. Daraus zogen die Ermittler den (letztlich falschen) Schluss, dass Florian Apler seine Ohnmacht am Morgen des 28. August 2022 nur vorgetäuscht habe. Niemanden interessierte, dass diese Google-Suche in einem völlig anderen Kontext stattgefunden hatte. Außerdem wurde ihm das Versagen einer Schrittzähler-App in seinem Smartphone als Täuschungsabsicht vorgeworfen. Diese angeblichen Indizien wurden isoliert als belastend gewertet und unverzüglich den Medien als Schuldbeweis zugeleitet. Damit war Florian Apler in der Öffentlichkeit als Mörder seines Sohnes abgestempelt.

Das Erschreckendste war dabei, dass die von den Ermittlern gelieferten Fehlinformationen ihren Weg durch die Instanzen nahmen. Landesgericht und Oberlandesgericht beriefen sich darauf, um die Fortsetzung von Florians Untersuchungshaft zu begründen. Und sogar die Richter des Obersten Gerichtshofs in Wien zogen sie heran, um eine Grundrechtsbeschwerde gegen die Inhaftierung abzuweisen. Niemand zweifelte, niemand hinterfragte etwas.

Nach über einem Jahr erstellte der zuständige, von Florian Aplers Schuld zutiefst überzeugte Staatsanwalt eine Anklageschrift, der dreitägige Prozess wurde vor einem Geschworenengericht anberaumt. Der dritte und letzte Prozesstag wurde schließlich zum Desaster für den Ankläger, denn seine eigenen Sachverständigen bezeichneten seine angeblichen Beweise als falsch. Der defekte Schrittzähler, die Suche nach "ohnmächtig", und die Flasche als angebliche Tatwaffe, die sich Florian Apler selbst auf den Kopf geschlagen haben sollte, alles brach in sich zusammen. Das hielt den Staatsanwalt aber nicht davon ab, in seinem Schlussplädoyer trotzdem einen Schuldspruch zu fordern, weil er doch persönlich "von der Schuld des Angeklagten überzeugt" war. Die Geschworenen waren allerdings anderer Ansicht und entschieden einstimmig auf "nicht schuldig". Florian Apler konnte nach 522 Tagen hinter Gittern endlich heimkehren. Bereits am nächsten Tag verzichtete übrigens der von Florian Aplers Schuld so vehement überzeugte Staatsanwalt auf Rechtsmittel, womit der Freispruch rechtskräftig wurde.

Ich muss gestehen, dass mich selten ein Fall so aufgewühlt und persönlich betroffen gemacht hat wie der "Fall Leon", und auch, nachdem im Manuskript am Schluss der letzte Punkt gesetzt war, blieben nicht nur viele Fragen offen, es ergaben sich fast wöchentlich neue. Warum haben sich die Ermittler einseitig auf den Vater als Täter konzentriert? Warum wurden entlastende Momente ignoriert? Warum wurde angeklagt, obwohl letztlich überhaupt keine Beweise vorlagen und eine Verurteilung von vornherein fraglich war? Warum verzichtete die Staatsanwaltschaft, nachdem sie fast zwei Jahre lang unermüdlich ermittelt hatte, bereits einen Tag nach dem Freispruch auf Rechtsmittel? Warum? Warum?

Wo gearbeitet wird, geschehen Fehler, auch das ist menschlich; wichtig ist aber, dass diese Fehler aufgearbeitet werden, um sich nicht zu wiederholen. Meine Anregung an das Bundesministerium für Justiz, die Tätigkeit des Staatsanwalts einer Überprüfung zu unterziehen, wurde von einer Kabinettsmitarbeiterin dahingehend beschieden, dass "die Frau Bundesministerin keine Urteile kommentiere". Meine ähnlich lautende Anregung an das Bundesministerium für Inneres betreffs einer Nachschau des Verhaltens des LKA Tirol wurde immerhin vor Monaten an eine Dienstaufsichtsbehörde weitergeleitet. Die Florian Apler zustehende, ohnehin geringe Entschädigung für 522 Tage Untersuchungshaft wurde bisher, nach 15 Monaten, noch nicht ausgezahlt. Ermittlungen nach dem wahren Verursacher von Leons Tod führt das LKA Tirol nicht durch, weil es "keine neuen Erkenntnisse gibt". Wenn man keine sucht, wird es wohl auch nie welche geben, oder wartet man in Innsbruck auf Kommissar Zufall?

Leons Tod ist inzwischen ein Cold Case geworden und wird es wohl auf ewig bleiben.

 "Eines Tages wird meine Tochter dieses Buch lesen, und sie wird mich fragen: ,Papa, warum haben die das gemacht?‘ Und ich werde darauf keine Antwort wissen." (Florian Apler)

"Jede Justiz ist immer nur so gut oder so schlecht, wie die Menschen, die dort tätig sind." (Volker Schütz)

"Wenn sich das kleinste Rädchen im Getriebe falsch dreht, funktioniert das Ganze nicht mehr richtig – egal, ob es sich um eine Maschine handelt oder um einen Justizapparat." (Volker Schütz)

 

Der Düsseldorfer Rechtsanwalt Volker Schütz, Jahrgang 1956, lernte die Familie Apler im Jahr 2019, mehr als zwei Jahre vor dem Tod des kleinen, am Syngap-Syndrom erkrankten Leon kennen. Nach dem Freispruch des wegen Mordes an seinem Sohn angeklagten Florian Apler schrieb er mit diesem zusammen das Buch "Der Fall Leon – 522 Tage unschuldig hinter Gittern". 

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  1. cato uticensis
    14. November 2025 11:51

    Ein recht haeufiger ueberfallstyp in Tirol, das mit der hinterruecks bewusstlos geschlagenen person.



  2. El Dorado
    14. November 2025 00:53

    Es ist schon schlimm, wenn jemand in einem Betrugsfall unschuldig verdächtigt wird. Die Tatsache, dass in diesem Fall ein Kind starb, macht umso betroffener.



  3. Alexander Huss
    13. November 2025 21:13

    Florian Apler musste meines Wissens ein Grundstück verkaufen, um die Anwalts- und Gutachterkosten bezahlen zu können.

    Das ist auch eine weitere Sauerei unseres Rechtsstaates: Freigesprochene werden mit einem Bettel abgespeist. Es waren die Justizministerin Zadic und die Grünen, welche alle Versuche abschmetterten ein Gesetz zu beschließen, dass Freigesprochenen sämtliche Kosten ersetzen werden sollten.

    In Deutschland ist das der Fall. Deswegen denken Staatsanwälte dort mehrfach nach, bevor sie anklagen.



  4. Pennpatrik
    13. November 2025 15:37

    Das bedeutet letztlich, dass jeder von uns, jederzeit, wie in der wildesten Bananenrepublik oder unmenschlichen Diktatur, unschuldig hinter Gittern landen kann.
    Die Verfassung schützt nicht die Bürger, sondern den Staat vor dem Bürger.






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