Gastkommentare

Es gibt so viele Zeitzeugen

04. Mai 2024 16:20 | Autor: Günter Frühwirth
7 Kommentare

Seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts hat der Begriff und die Methodik der Oral History in die zeitgeschichtliche Forschung Eingang gefunden. Zuerst an US-Universitäten, mit der Zeit aber auch in Europa.

Das Institut für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte an der Universität Graz stellt dazu fest: Wörtlich übersetzt bedeutet Oral History "Mündliche Geschichte". Gemeint ist im Englischen damit aber mehr, nämlich so viel wie während eines Gesprächs/Interviews durch eine Person erinnerte und von dieser mündlich wiedergegebene Vergangenheit. Die Oral History ist daher grundsätzlich ein retrospektives Erhebungsverfahren.

Es werden vergangene Ereignisse nicht durch spätere ("nachgeborene") Historiker analysiert und bewertet, sondern werden durch Erinnerungen von dabei gewesenen Personen gleichsam wieder lebendig gemacht.

Natürlich mit allen möglichen Fehlerquellen, die das persönliche Erinnerungsvermögen in sich hat. Nicht zuletzt ist das Gedächtnis etwas höchst Subjektives, das uns auch dazu verleitet, die Vergangenheit zu schönen oder noch negativer zu sehen, als sie es tatsächlich war. Wie objektiv kann sich ein alter Mensch nach Jahrzehnten an Kindheitsereignisse erinnern? Andererseits beschert uns das Gehirn mit dem Älterwerden auch ein besser werdendes Langzeitgedächtnis, während wir am Abend manchmal nicht mehr wissen, was zu Mittag am Esstisch war ...

Oral History hat einen wesentlichen zusätzlichen Aspekt zu Gesprächen zwischen Großeltern und Enkel: die Gespräche werden dokumentiert und in Archiven für weitere Forschungen zugänglich gemacht. Persönliche Erinnerungen und Schicksale werden damit öffentlich.

Mich beschäftigt das Thema "Zeitzeugen" seit längerem. Dieser Begriff wird bei uns überwiegend, ja fast ausschließlich für Opfer des NS-Regimes verwendet. Das DÖW leistet hier viel Arbeit, und auch die Politik sieht sich im Hinblick auf Österreichs Vergangenheit besonders den NS-Zeitzeugen verpflichtet.

So rücken ganz, ganz viele andere Ereignisse und Erlebnisse älterer und alter Frauen und Männer, die ebenfalls einer auf persönlichen Erinnerungen basierenden Dokumentation wert wären, in den Hintergrund.

Etliches fällt mir als Zeitzeuge der Kriegskindgeneration spontan, ohne lange darüber nachzudenken, ein:

  • Der Schutz vor den Bomben im Hauskeller oder in einem Bunker;
  • der englische Jagdfliegerangriff bei Friedberg auf "unseren" Zug, den der Lokführer nicht überlebte, aber er brachte den Zug noch bis zum Bahnhof Friedberg, wo ich mit meiner Mama und den anderen Passgieren Schutz fand – sein Schicksal war bis heute am Bahnhofsgebäude keiner Gedenktafel wert (dokumentiert in: Luftschutz und Luftkrieg in der Steiermark: 12. Oktober 1944: Um 14.30 Uhr greifen aus Norden kommende leichte englische Kampfflugzeuge im Tiefflug in Rohrbach an der Lafnitz einen fahrenden Personenzug an; der Lokführer Alfred Brenner wird getötet, fünf Männer und zwei Frauen werden verletzt.);
  • als zur abendlichen Verdunklung die schwarzen Papierrollos zwischen den Fensterflügeln herabgelassen wurden, und die Lampen der Straßenbeleuchtung einen dunklen Anstrich bekamen;
  • wie das auf der Straße liegende tote Pferd als wertvolle Fleischquelle von Anrainern zerteilt wurde;
  • als die Russen die Fässer der Vermouthkellerei freigaben und sich die Nachbarn ihre Kübel anfüllten;
  • aber auch der Rotarmist, der plötzlich vor uns mit der "Puschka" im Anschlag im Keller auftauchte und sich (Gottseidank!) nach energischen russischen Zurufen eines beherzten Nachbarn sogleich wieder verdrückte;
  • ja, der zum Notausstieg gewordene Kellerdurchbruch der Feuermauer zum Nachbarhaus war uns Kindern fürs Versteckerlspiel willkommen.

Und nach dem Kriegsende:

  • die zerbombten Häuser, in denen man zur Wohnung nur über die hölzerne Hendltreppe kam;
  • die übermütigen jungen französischen Soldaten auf den Trittbrettern der Straßenbahn;
  • der Heimkehrertransport am Ostbahnhof – und der Onkel war nicht dabei;
  • der Aufenthalt bei einer lieben Bauernfamilie im Salzburgischen, damit der Wiener Bub wieder "aufgepeppelt" wird;
  • dann der Schulbesuch mit Essens-Ausspeisung;
  • Kriegsrelikte zum Spielen (wie eine FLAK als Ringelspiel am Maurerberg, oder der Schirachbunker am Galitzinberg);
  • die Musterung für das neue Bundesheer;
  • der Cadbury-Schokoladehandel in der Schadekgasse beim Flakturm;
  • die Amerikahaus-Bibliothek gegenüber der Oper im Opernringhof mit Schallplatten zum Ausleihen;
  • die (damals ernst genommenen) idiotischen Wettbewerbe für Kinder, wie das Aufschreiben und Sammeln von Taxikennzeichennummern;
  • die ersten Wiener Festwochen mit dem festlich beleuchteten Rathaus;
  • den Staatsvertrag im Belvedere;
  • zum Fernsehen ins Gasthaus gehen;
  • das Glück, ein "Vierteltelephon" zu haben;
  • die Frischmilch im Kännchen von der Milchfrau holen, die aus der vollen Wanne schöpfte;
  • das ab 21 Uhr von der Hausbesorgerin versperrte Haustor, zu dem nur sie den Schlüssel hatte

und, und und ...

Ja, in meiner Generation sind viele Zeitzeugen – aber wer fragt, wer will’s wissen und bewahren?

 

Dr. Günter Frühwirth ist Jurist, Familienforscher, und aktiv an der Gesellschaftspolitik interessiert.

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  1. Alexander Huss
    11. Mai 2024 20:58

    Als Jahrgang 1955 kann ich - Gott sei es gedankt - nicht mit Nachkriegserlebnissen aufwarten.

    Ich fand es aber schwierig als Geschichtslehrer, die Zeit ab 1970 - Bruno Kreiskys erster Wahlsieg - so objektiv wie möglich zu unterrichten.

    Ich sagte meinen Oberstufenschülern sinngemäß: "Wir behandeln nun eine Epoche, die ich als Teenager miterlebt habe. Ich kann euch sagen, ich mochte diesen Bruno Kreisky nicht, weil er mir zu populistisch war. Ich werde mich aber trotzdem bemühen, diesen Zeitabschnitt so wertfrei wie möglich darzustellen".

    Somit wussten meine Schüler, woran sie waren.



  2. Kyrios Doulos
    04. Mai 2024 22:01

    Und ich bin auch Zeitzeuge. Erstens des praktizierten Kommunismus in Ungarn und zweitens der Coronadiktatur mit allen Menschenrechtsverletzungen durch die Staatverbrecher der ÖVP und der andern Blockparteien. Und ich bin Zeitzeuge der gerade rasant stattfindenden Weiterentwicklung der linksfaschistischen autoritären Diktatur in der EU, insbes. in Deutschland und in Österreich unter der ÖVP-Regierung und des Öster-Reichspropagandasenders ORF. Nebenher arbeiten die Mohammedaner an der Errichtung des Kalifats, unterstützt vom ORF und von der linksautoritären Regierung in D und in Ö.
    Sehr verwirrend. Gerade waren die Damen und Herren Genoss*_Innen in Mauthausen weinen. Zurück in Wien, arbeiten sie am Aufbau der EUdSSR und darüber hinaus der WHO-Pandemiediktatur.



  3. Ingrid Bittner
    04. Mai 2024 19:10

    Ja, ich bin auch eine Zeitzeugin, zwar nicht für den Krieg, aber für die Nachkriegszeit.

    Das prägendste Ereignis meiner Volksschulzeit war der Staatsvertrag, nicht weil ich mir die politische Dimension dieses EReignisses auch nur annähernd bewusst war, aber es war was
    Besonderes.

    In der Halle unserer Schule war ein Radio aufgestellt, Fernsehen war damals nicht. Aber das war's auch noch nicht, schlimm war für mich, dass sich meine Mutter furchtbar aufgeregt hat, weil wir mussten eine Fahne oder besser ein Fähnchen für diese Feierstund basteln, aus gummiertem Buntpapier.

    Dazu brauchten wir ja nur die Blätter rot und weiss, aber das Buntpapier gab es nur als Heft mit allen Farben und das kostete für das bescheidene Haushaltsbudget das vorhanden war, einfach zu viel. Ich hör meine Mutter heut noch Jammern, soviel Geld für nix........

    So hat jeder, der damals schon auf der Welt war, seine eignen Erinnerungen.



    • Isis42
      04. Mai 2024 21:02

      Vielen Dank für Ihre interessante Dokumentation einer Zeit, die man unseren Nachgeborenen kaum so drastisch schildern kann.
      Ich selbst gehöre auch zu diesen Zeitzeugen. Mein Großvater hatte ein großes landwirtschaftliches Gut. Nach dem Kriegsende im Mai 1945 kamen aus dem Osten (Rumänien, Bulgarien etc.) unzählige Flüchtlinge, Frauen mit Kindern, meistens ohne einen Familienvater. Sie alle waren in einem "Baracken-Lager" nahe der Ortschaft untergebracht. Mein Großvater schickte seinen Verwalter mit dem Fuhrwerk um sie abzuholen. Sie bekamen dreimal am Tage ein gutes Essen, keinen Sold, sie haben auf seinen Feldern gearbeitet. Abends wurden sie mit dem Leiterwagen wieder in das Flüchtlingslager zurückgebracht. Dies wiederholte sich über viele Wochen und sie alle waren glücklich...
      Heute sind viele "Flüchtlinge" sehr unverschämt und fordern, was andere durch Steuern und Spenden zur Verfügung stellen!
      Die Flüchtlinge von 1945 waren zufrieden und dankbar für jedes Stück Brot.



    • ET IN ARCADIA EGO
      05. Mai 2024 08:42

      Diese Flüchtlinge aus 1945 waren tatsächlich mit Gewalt Vertriebene und Verfolgte. Sie waren ehrlich, fleißig, strebsam und haben sich mit ihrer eigenen Hände Arbeit einen bescheidenen Wohlstand aufgebaut, es waren Deutsche, es waren Christen.






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