Gastkommentare

Die Schönheit der Stahl-Pirouette

03. Januar 2023 16:57 | Autor: Leo Dorner
4 Kommentare

Wenn junge Journalisten über moderne Architektur berichten, pflegen sie fast regelmäßig zu entflammen und verbale Begeisterungsstürme zu entfachen. Unter "moderner Architektur" verstehen sie natürlich die modernste aller modernen: Denn nur diese könne uns die Schönheiten der "dekonstruktivistischen Architektur" bemerken und bewundern lehren. Unter der Ägide des ewig jungen Altvaters Le Corbusier, der wie Duchamp in der "Bildenden Kunst" als heroischer Kolumbus auf dem Ozean der modernen Architektur gehandelt wird, ist kein Lob zu kurz, kein Schlagwort zu wenig abgedroschen und kein Hymnus verpönt und verschmäht.

Wir lesen von "majestätischen" und von "überwältigenden" Schönheiten und vor allem von "Schönheiten", die sich "ganz unmittelbar" zeigen – dem, der seine Augen endlich aufgetan hat. Den Augenöffner zu machen, dies ist des missionierenden Journalisten oberstes Gebot. Folglich ist auch "bahnbrechend" eine Lieblingsvokabel des zeitgeisthörigen Jubeljournalismus, sie findet sich wieder in allen Bezirken und Etagen von "Kunst und Kultur". Wobei aber "Kunst", auch und besonders die unterhaltende, zum prägenden Synonym für "Kultur" aufgestiegen ist.

In der Architektur liegt der Fall von innovativer Kultur nochmals anders und eigentümlich: Ein Wiener Gemeindebau à la Corbusier und Gehry ist so undenkbar wie ein Heuriger, der nur noch Whisky und Coca-Cola ausschenkt. Hingegen wäre eine in der Wiener Staatsoper veranstaltete Jazz-Session, die mit einer "Webern-Sinfonie" (jazzig interpretiert oder auch nicht) als aufweckende Zugabe überrascht, durchaus denkbar.

Was ist so eigen an der Architektur, dass wir ihrem Erfindergeist eine besondere und geradezu auserwählte Fortschrittlichkeit zubilligen? Die Antwort ist banal und doch begründet: weil wir "daran nicht gleichgültig vorübergehen können". Gleichgültigkeit gegen einen Wolkenkratzer, an dem wir vorbeifahren oder an dessen Fuß wir als Zwerge zu "flanieren" versuchen, kann man natürlich zu üben versuchen. Aber mehr als ein Sketch für den unsterblichen Nestroy-Wiener wird dabei nicht herauskommen. 

Der Architekt als Weltenschöpfer

Es ist die Architektur, die unser Leben unmittelbar verändert, so äußerlich diese Veränderungen auch sein mögen, so wenig sie unser sonstiges berufliches und privates Leben tangieren. Neuartige Gebäude versetzen uns, ob wir wollen oder nicht, in eine neue Umwelt, in eine neue Stadt, in eine andere, als jene war, in der wir bisher gelebt haben. Würden die vor dem Zweiten Weltkrieg in Wien Verstorbenen ihre Gräber nochmals verlassen, um durch das heutige Wien zu spazieren, sie würden "ihre Stadt" nicht mehr wiedererkennen.

Um diese weltverändernde Macht der Architektur, – sie bedarf keiner politischen Revolutionen, um sich durchzusetzen, – weiß jeder Architekt, weiß jede (mit vielen anderen konkurrierende) Architekten-Firma. Und für Diktatoren und Tyrannen zählen die aktuellen Architekten ihrer Zeit zu den begehrtesten Künstlern, wie nicht nur Hitler, Mussolini und Stalin bewiesen. Man frage daher nicht (mehr), woher das protzende Selbstbewußtsein der Bauherren-Zunft herrührt. Und ebenso das ihrer schreibenden Klientel in allen neuen und alten Medien.  

Der Architekt muss die Welt von morgen schaffen, er lebt gewissermaßen in einer ewigen Gründerzeit, wovon die historische Gründerzeit am Ende des 19. Jahrhunderts nur ein Beispiel von unzähligen war. Damals galt es, alle Verschnörkelungen und ornamentalen Zierrate der klassizistischen Spätstile und des autistisch in sich verliebten Jugendstils zu "dekonstruieren": Geradlinige und flachbrüstige Wände und Bauten sollten das neue Stadt-Glück des Wieners der Zukunft sein. Dann aber kam bekanntlich "etwas Politisches" dazwischen, unfassbarerweise sogar zweimal, und der (Bau-)Traum der modernen Architekten geriet ins Wanken.

Dennoch lebte der architektonische Traum nach dem Zweiten Weltkrieg mit neuer ästhetischer Macht wieder auf. Und solange die Bau-Stile von gestern noch etwas zeigen (werden), das sich demontieren und dekonstruieren lässt, ist auch für das ewige "Stirb und Werde" des Architekten-Schaffens kein Ende abzusehen. 

Alchemie und Dekonstruktion

Allerdings werfen die kühnen Gebäude der aktuellen "dekonstruktivistischen Architektur" (vulgo "Bilbao-Stil") auch unter den jubelnden Kuratoren immer wieder die Frage auf, ob man es überhaupt noch mit Architektur im bisherigen Wortsinn, nicht vielmehr schon mit Architektur-Alchemie zu tun habe.

Die Eingriffe des digitalen Konzeptierens in das technologische Schaffen der Hoch- und Tiefbau-Industrie hätten kreative Baublüten ermöglicht, die aller vortechnologischen Architektur seit Adam und Eva schlechthin unzugänglich waren. Eine völlig neue Sprache spreche nun die Arcitectura nova, und wo früher der Erfindergeist nur eines Leonardo einige wenige Zeitgenossen erreichte, beglücken jetzt tausende Leonardos eine globale Kundenschaft.

Wir erinnern uns: Die Alchemisten des Mittelalters und noch der beginnenden Neuzeit waren jene Chemiker, die wie die Astrologen unter den Astronomen nicht den vorgegebenen Bahnen ihrer voranschreitenden Wissenschaften folgten, sondern lieber an die Märchen mythologischer "Wissenschaften" glaubten, die einen auffindbaren Stein der Weisen oder die Erfindung von Gold durch geheime alchemistische Prozeduren verkündeten. Ein Chemikerglaube, der heute so gut wie restlos ausgestorben ist.

Indes unsere Astrologen immer noch nach "zwischenmenschlichen Beziehungen" zwischen Himmelsköpern und Menschen "forschen," weil Letztere auch nur ein Teil des großen Getriebes am Himmel wären. Über die Methoden und Resultate dieser Forschungen wird in aller Öffentlichkeit berichtet. Sogar einschlägige Fernsehkanäle informieren eine globale Kundschaft Hochinteressierter über den neuesten Stand der astrologischen Kausalitäten.

Das bissige Wort von einer "Alchemistischen Architektur" ist offensichtlich dem (Vor-)Urteil zuzuschreiben, dass der Einsatz digitaler Mittel für die Zwecke der Architektur die "Chemie" der bisherigen Baukunst verrate oder kündige oder sonst wie außer Kraft setze. Die normale Architektur werde durch eine nicht-mehr-normale Architektur abgelöst. Ein (Vor)Urteil, das uns tief in die Abgründe eines technologischen Kulturfortschritts blicken lässt, von dem in der Baukunst nur noch sehr naive Gemüter behaupten, er sei dem Fortschritt der modernen Architektur über alle vormoderne zuzuschreiben. Le Corbusier wäre tatsächlich der "alleinige Vater" oder "Pate" der "dekonstruktivistischen Architektur".

(Ähnlich wurde die Elektronische Musik der "Darmstädter Komponisten" der 68er Jahre als Urquelle der späteren "Elektronischen Musik" in den Unterhaltungstempeln praktizierender DJs behauptet.) Offensichtlich möchte man die Macht des digitalen Urhebers der technologischen Kulturrevolution "herunterspielen", - der Glaube an die immerwährende Geniekraft der europäischen Künste-Kultur lebt noch. Gehrys Baukunst setze nur fort, was ihr das Beginnen bei Leonardo und Corbusier ermöglicht habe. Ein beliebter Forschrittsirrtum, der übersieht, was er übersehen möchte. 

Nicht "Alchemie" sei die Wurzel des neuen Schönen und Erhabenen, sondern eine völlig neue "Chemie" lehre uns schon seit langem, wie heute und morgen alle architektonischen Gebilde auszusehen haben. Ein Grundsatz, der offensichtlich auf einem noch tieferen gründet: Jedes Zeitalter und jede Kultur haben das Recht und die Pflicht, ihre je eigene Chemie und deren praktische Anwendung zu realisieren.

Ähnlich dachte die heroische, später "klassische Moderne" am Anfang des 20. Jahrhunderts in den Revieren aller traditionellen Künste. Prononciert in Kunstmusik und Kunstmalerei, aber auch in Dichtung und Theater. Ausgespart blieben der (Kino-)Film und anfangs auch die Photographie, die beide bekanntlich an technischen Quellen trinken und sich bis heute maschinell ernähren. Wogegen das Schaffen der traditionellen Künste, wenn es seinen vormodernen Prozeduren treu bleibt, gleichsam im Stand der Unschuld verharrt. (Wobei aber der revolutionierende Schritt von der "guten alten" Handschrift über die fast schon ausgestorbene Schreibmaschine zur elektronischen Computer-Tastatur sträflich unterschätzt wird. Die Schreibekunst ist nicht mehr, was sie noch bis vor kurzem für Jahrtausende gewesen ist.)

Gerade weil das "Dekonstruktivistische" an der modernen Architektur ein Geheimnis ist, das keines ist, kann ein kräftiger Schuss Obskurantismus nicht schaden, wenn sich der Kulturjournalist bemüht, zugleich Missionar und Entdecker zu spielen. Um sich die "unfassbare" Größe des Gehry-Guggenheim-Museums in Bilbao anzueignen, bedürfe es gewisser (Initiations-)Riten, ohne deren Vollzug das Geheimnis der (Bau-)Sache verschlossen bleibt. Das "Ikonische" allein hilft nicht, denn dieses geheimnisvolle Namens-Wesen verdankt sein Existieren allein den Wiederkennungs-Werten auf der Aufmerksamkeits-Skala für öffentliche Gebäude.

Die Ikonen der orthodoxen Kirche verdankten und verdanken sich einer Institution und deren Gläubigen. Eine oberste (Kirchen-)Behörde bestimmt, was ikonisch ist und bleibt, nachdem sich im 15. Jahrhundert eine Ostkirche vom säkular werdenden Künstlerwesen der Westkirche verabschiedete. Dagegen kann der "ikonische Architekt" der Moderne über Baubehörden und deren Ingenieur-Ästhetik nur noch müde lächeln. 

Erleuchtete gegen Banausen

Der Kampf mit den Banausen, die am Dekonstruktivistischen der modernen Architektur nichts als Architektenwillkür und frei herumlaufende 3D-Phantasie erblicken, ist mühsam. Immer wieder muss man den Unbelehrbaren klarmachen, dass das Dekonstruktivistische eigentlich harmlos sei, - ein "Gebäude wie jedes andere statische Objekt auch".

Denn "statisch" sei es schon "per definitionem". Es stehe "auf festen Füßen und Beinen und auf einer gediegenen irdischen Grundlage". Haben wir einen Missionar vor uns, der sich erfolgreich als Bauernfänger betätigen möchte? 

Die festen "Beine und Füße" der Akropolis, des Doms zu Mailand und noch des Eiffelturms in Paris seien Gewähr genug, dass sie rein gar nichts vom Gehry-Guggenheim-Museum in Bilbao unterscheidet. Schon sind wir bereit, klein beizugeben und dem Moderne-Missionar zu seinem diesmaligen Bauernfang zu gratulieren. Da fällt uns rechtzeitig ein, dass eine Kuh sogar auf vier festen Beinen und Füßen steht und geht und doch kein Mensch sein möchte, weil sie dann per definitionem ein Wesen wäre, dem neuerdings nachgesagt wird, Kühe als denkunfähige Menschen zu diskriminieren.

Doch unser Bauerfänger lässt nicht locker. Eines sei unter allen Umständen gesichert: dass die Gehry-Museums-Ikone in Bilbao der Stadt Bilbao "die Show stehle", ähnlich wie das Opernhaus zu Sydney dem ganzen Sydney. Gegen dieses Argument ist allerdings kein Einspruch möglich: Eine Ikone ist eine Ikone ist eine Ikone. Keines der vormodernen Opernhäuser Europas hat deren Städten (Paris, Wien, London, Budapest, Berlin und alle anderen der Belle Époque) "die Show gestohlen".

Beim Anblick der in sich geschlossenen Ensembles von Palästen und Prachtgebäuden der alten Hauptstädte wäre niemand auf den Gedanken gekommen, auch nur an die Idee einer "Show" zu denken. Die alten Hauptstädte suchten weder nach einer himmelstürmenden Sky-Line noch musste man sie zu jährlich wechselnden "Kulturhauptstädten" ernennen. Sie sind mittlerweile zu Altstadt-Ensembles geschrumpft, in denen der gelernte Tourist erfährt, wie man rasch und gründlich Urlaub von aller Moderne nehmen kann.

Shows unterhalten bekanntlich durch Varietés und verwandte buntgemischte Darbietungen. Und ein Ensemble moderner Gebäude als Show erleben, dies ist vermutlich der Schlüssel (das Sesam-öffne-Dich) für ein sachgerechtes Erleben der dekonstruktivistischen Baulandschaften unserer modernen Stadtarchitekten. Mit diesem Schlüssel in unseren Händen lässt sich auch spielend entdecken, wie prächtig der Stephansdom zu seinem modernen Haas-Haus-Gegenüber "passt". Wie das Auge, dem ein Faustschlag versetzt wird, unkt seither der ewige Wiener Banause, indem er von seinem Würstelstand aus die beiden Vis-a–Vis-Gebäude sachgerecht beurteilt. Der gestandene Wiener hat seine eigenen Begriffe von Show und Diebstahl. 

Diebe und anderes Gesindel

In Bilbao macht bekanntlich Gehrys Guggenheim-Museum den Show-Dieb. Er folgt dem Vorbild des Ur-Diebs in Paris von 1889, allerdings im Respekts-Abstand einer "raschlebigen" Architektur-Epoche. Damals wagte man noch von "Ingenieurbaukunst" zu reden, ein heute bereits verfemtes Wort. So ändern sich die Zeiten, ohne klüger zu werden, sondern im Gegenteil. Die Ingenieurkunst des kühn konstruierenden Monsieur Eiffel war allerdings noch geometrisch harmlos. Seine stählerne Gerüstpyramide folgte gleichsam noch einem euklidischen Freimauer-Werkzeugkasten und auch noch nicht den deutschen Bauhaus-Spielereien, die so gern die "eigentliche Architekturmoderne" (auch für Hinz und Kunz) geworden wären.

Man könnte den Eiffel-Turm als "Ikone" der konstruktivistischen Architekturmoderne bezeichnen - sieben Millionen Besucher pro Jahr können nicht irren. Diese Jahresquote wird das Matterhorn noch in hundert oder gar tausend Jahren nicht erreichen.

Aber ein neuer, ein endlich "dekonstruktivistischer Eiffelturm" in Paris oder anderswo könnte es schaffen. Wer wagt es: Rittersmann oder Knapp? Ein Versuch wäre das Experiment wert. An der Phraseologie der Kuratoren, die uns dann die Überlegenheit des zweiten über den ersten Eiffelturm klarmachen, wäre der Fortschritt an "bahnbrechender" Architektur-Klugheit wie unter einer hybrid vergrößernden Lupe zu studieren.

Wir wollen nicht allzu genau in den Zeitungsarchiven der Stadt Paris schnüffeln, um unsere Vermutung dokumentarisch zu bestätigen, dass man schon zur Zeit von Monsieur Eiffel dessen gestählte Himmelspyramide als "Dekonstruktion" der gotischen Kathedralen deutete, weil man sich des Kopfnickens tausender Zeitgeistdenker sicher sein konnte.

Die "Galerie des Machines" der Pariser Weltausstellung von 1889, entnehmen wir einem Pressebericht aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, rief eine "ebenso große Begeisterung hervor" wie ähnliche Galerien auf der Weltausstellung in London (Crystal Palace, 1851).

Zwar ist der Journalist des 20. Jahrhunderts realistisch genug, um zu bemerken, dass "die meisten Zeitgenossen wohl nur die konstruktive Leistung, die Zweckmäßigkeit, die Größe, die technische Vollendung usf." der Bauten und Maschinen in den Himmel ihrer Bewunderung hoben. 

Womit aber die zeitgenössischen Experten einer ominösen "Fachwelt" schon im 19. Jahrhundert durchaus nicht übereinstimmten. Denn ihre Expertise urteilte kühner und geradezu über alle Epochen der Künste hinausgreifend. Die "Galerie des Machines" sei mit ihrer "phantastischen Spannweite von 115 Metern" und in ihrem "kühnen Aufstreben, ihren großartigen Proportionen" usf. ein "ebenso schönes, reines, ebenso originelles, ebenso hochrangiges Kunstwerk wie ein griechischer Tempel oder eine Kathedrale".   

Das "Ebenso-Wie" ist offensichtlich die Falle, in die die Geschichte der Künste ihre jeweils letztaktuellen Epochen und deren Avantgarden plumpsen lässt. Daran hat sich bis heute nichts geändert, weshalb die Kosten, die man seit dem 19. Jahrhundert in Kredite auf kollektive ahistorische Dummheit investierte, mittlerweile unbezahlbare Rückzahlungssummen erreicht haben. Höchste Zeit, dass in sich jüngster Zeit eine rettende Cancel-Culture zusammenrottete, die sich jegliche Bevormundung durch die Geschichte verbittet und stattdessen die eigene Bevormundung aller Geschichte propagiert und durchzusetzen versucht. Eine neue Zensurbehörde von niegewesener Größe und Gründlichkeit hat die Bühne der Geschichte, auch die der Künste, betreten. 

In der Spielwüste von Las Vegas

Es sind somit nicht Erdbeben und Tsunamis, nicht Asteroiden-Einschläge und Vulkanausbrüche, die den modernen Alchemie-Architekten ins "Dekonstruktivistische" abführen. Es ist eine Gleichstellungs-Operation, die der moderne Architekt mittels neuer Phantasie-Werkzeuge am Gesamtkörper aller Architektur (am noch lebenden Patienten) vornimmt.

Daher glauben sich Gehry und Co. befugt und berufen, die vormoderne Einfalt der Pyramidenform, der schon die alten Ägypter in die Falle gingen, als noch kindliche Konstruktion zu durchschauen und auf dem Dekonstruktion-Altar der neuen Menschengötter – Genies einer immerwährenden Moderne - zu opfern.

Dass die ägyptischen Pyramiden und den Eiffelturm und dessen verwandte Nachfahren tausende Jahre trennen, erkennen heute sogar noch unsere Kinder. Für den Architekten der Dekonstruktion ist diese Ungleichzeitigkeit der Stilepochen kein kleiner Skandal: Sie versucht, seiner Phantasie Grenzen zu setzen, Grenzen, die ein für allemal in die Luft zu sprengen, seine historische Berufung ausmacht. Für ihn sind alle Arten und Stile der Architektur quer durch die Jahrtausende eine frei verfügbare Spielmasse.

Und ob die Resultate seiner modernen Durchknetung der großen und vielfältigen Spielmasse nochmals unter "Personalstil" oder anderswie rubriziert werden, ist nur noch für den gewählten Sermon der Preisverleihungs-Reden einer mitspielenden "Fachwelt" von Bedeutung.

Die Teile und Massen werden entweder zur Unterhaltung eines nur noch touristisch gebildeten Publikums zusammengewürfelt wie in Las Vegas oder zur höheren Erleuchtung der "Ebenso-Wie"-Denker einer epochenübergreifenden "Fachwelt" juxtapostiert. Zur Not und Abwechslung lassen sie sich auch verpacken und "verhüllen", um als des Kaisers neue Kleider verkauft zu werden.

Kein Tabu kann diese entfesselte Phantasie abhalten und einschränken, sie scheint dem Furor jeder Cancel-Culture entkommen zu sein.  Aber diese beiden Extreme", - das inquisitorische Befolgen neuerfundener Tabus hier und das "Canceln" aller Tabus dort - , "se touchent", wie der Franzose sagt, ein schwer gebranntes Kind der Weltgeschichte, das bereits durch unübersehbar vieler Zusammenstöße unverträglicher Weltgegensätze durchgebeutelt wurde. 

Der Bauernfänger und seine Nepochanten

Der Ritus, den unser Moderne-Missionar empfiehlt, um die höheren Weihen des dekonstruktivistischen Verstehens zu empfangen, ist unmissverständlich und einfach nachvollziehbar.

Während die ewiggestrigen Banausen der Architektur immer noch an statische und einfache Formen als Grundelemente der Architektur glauben, hat sich sein dekonstruktivistischer Menschengeist bereits zu einer revolutionär neuen Welt- und Architekturwahrnehmung befreit. Nach erfolgreicher Selbstbeobachtung teilt er uns mit, was er selbst in Bilbao wie eine Erleuchtung erfahren hat:

Als er auf das Gehry-Guggenheim-Museum zuging, wurde dieses immer größer und schien sogar näher zu kommen, womit sich sein alter Glaube an statische und bewegungsfreie Bauten und Architekturelemente für immer in Luft aufgelöst habe. Allerdings wisse er, wie schwierig es ist, die neue Botschaft den Altgläubigen zu verklickern: "Das versuchen Sie mal denen zu erklären." Doch ist der Weg vom Erklären zum Bekehren noch weit. Der Unglaube der Ungläubigen war noch zu jeder Zeit des Missionars Endstation. Und an der stummen Wand der resistenten Nepochanten aller Epochen, scheitert noch der gewiefteste Bauernfänger auch in den Kurzzeit-Epochen der Moderne seit dem 20. Jahrhundert.

Doch hat der Missionar klar und deutlich gesprochen: Wer jetzt noch an einen nennenswerten Unterschied zwischen Gehry und Gizeh, zwischen Gehry und Palladio glaubt, dem ist nicht mehr zu helfen: Irgendwann und irgendwo hört sich die großzügigste Toleranz auf.

Ein anderer Versuch unseres Bauernfängers bemüht die schillernden Fassaden der Gehry-Gebäude, um uns das dekonstruktivistische Denken des neuen Architektur-Kolumbus als das neueste Ei des legendären Kolumbus vor die Füße zu legen. In der Tat: Die Titan-Oberflächen der Metallgebäude schillern mehr als erfreulich, sie führen uns ohne Pause Licht- und Schattenspiele vor, sodass wir uns unwillkürlich fragen, ob dadurch der Planier-Furor des Flachbauers Alfred Loos nochmals rechtzeitig hätte geheilt werden können. Die Lehre aus diesem schillernden Spiel ist ebenso einfach, wie erhebend: Schillernde Gebäude sind "wie in Bewegung", und Bewegung dekonstruiert alles Nichtbewegte und Ruhende. Und wie schillernde Gebäude bewegte Gebäude erzeugen, so erschaffen Bewegungen "dekonstruktivistische" Meisterwerke. Müssen wir doch Alexander Calder und seine "Mobiles" als Gebärmutter der dekonstruktivistischen Architektur (an)erkennen?

Nicht die Schnörkeleien der alten Gebäude des alten Wien waren des Loos‘ eigentliches Problem, dieses war gravierender: Häuser, die ruhig und unbewegt in ihrer Gegend herumstehen waren der noch verkannte Skandal, sie waren die Ursünde gegen die kommende neue Freiheit des dekonstruktivistischen Denkens und Bauens. Kinetische Kunst wäre Loos‘ großes Los gewesen. 

Konservative gegen Dekonstruktivistische

Noch gründlicher fällt der nächste Versuch des Bauernfängers aus, unser ewiggestriges Banausentum zu heilen: Das Tun und Treiben der Architekten war seit Adam und Evas Hüttenbau ein "konservatives Tun", das sich "konservativer" Mittel bediente, um seine Zwecke (nichts als "konservative") zu erreichen. Nach so viel tausend Jahren, die ungenützt verstrichen, weil die höheren Zwecke des nichtkonservativen Tuns immer nur in verborgenen Kellern schlummern durften, ist nun die neue erlösende Zeit angebrochen, um die Gefesselten endlich ans Licht zu bringen: durch ein revolutionäres "dekonstruktivistisches" Tun, somit durch ein völlig neues Tun, dessen Name zwar schon unter uns weilt, dessen sperriger Klang aber noch seine trübe Quelle verrät: Typisch deutsches Intellektuellentum hat sich wieder einmal als Täter und Erfinder verausgabt. Intellektuelle anderer Nationen werden einspringen müssen, um das neue "Handwerk" globalfähig umzutaufen.

Aber wir werden noch deutlicher und gründlicher belehrt, um unserer endlich gelingenden Teufelsbanausenaustreibung glücklich beizuwohnen. Auch der Unterschied von konservativ und revolutionär ist noch nicht das gesuchte Ei des Kolumbus in der aufgefundenen Frage. Geist und Begriff des Dekonstruktivistischen liegen noch tiefer vergraben. Der Dekonstruktivismus der modernen Architektur sei schlicht und einfach "ein Sprung über die Idee hinaus". Ein wahres Wort, das wahr zu deuten, nur noch weniger Worte bedarf. 

Nehmen wir die intellektualistische Schwulstbeilage "Dekonstruktivismus" ungeniert vom Teller, sehen wir Klartext: eine "konservative Praxis" ist jene, die Millionen Architekten auf diesem Planeten bis zum heutigen Tage brav und fleißig, auftragsgemäß und zufriedenstellend ausführen. Wo eine Gerade gerade und eine Schräge schräge sein darf, und beide auch so und nicht auch anders benannt werden.

Millionen "Konservative" gegen ein paar tausend "Dekonstruktive": Millionen, die brav und geborgen in den Bahnen der herkömmlichen (Architektur-)Idee kreisen, dagegen einige tausend andere, die "die Idee" verlassen haben, um in bessere und unsterblichere Jagdgründe abzufliegen. Ersichtlich schon daran, dass die Produkte ihrer innovativen Dekonstruktionspraxis in allen Städten, die mit einer alternativen und diversen Modernität hausieren gehen, allem herkömmlichen Bauten- und Häuservolk dieser Städte "die Show stehlen".

Die hohle Aussage, der Dekonstruktivismus sei faszinierend, weil er keine "konservative Praxis" sei, übersieht freilich, dass die neue Praxis der neuen "Idee" oder Nicht-mehr-Idee schon beinahe ein Jahrhundert auf dem Buckel hat. Und immer noch auf den sensationslüsternen Markt "innovativer Architekturbauten" ausgelagert wird. Die Myriaden der Häuselbauer- und "konservativen" Städte- und Siedlungen-Erbauer blieben bislang unbehelligt. 

The show must go on

Auch die schief- und buckelwandigen Thermalbäder des antigeometrischen Weltenbefreiers Hundertwasser (ein passionierter Anti-Loos) haben keine Nachfolger gefunden. Offenbar möchte man doch lieber schwindelfrei durch vernünftige Räume schreiten und über normale Stiegen auf- und absteigen. Werden auch diese neuen Kleider eines einmal neugewesenen Kaisers immer noch als "innovative Vorbilder" gezeigt, weil ihnen kluge Kinder mit offenen Augen bis heute nicht über den Weg gelaufen sind?

Das Normensystem der konservativen Architektur beruht bekanntlich auf lauter identischen und überaus langweiligen Axiomen: Ein Quadrat ist ein Quadrat, ein Kreis ist ein Kreis, eine Linie ist eine Linie und ein Punkt ist ein Punkt. Folglich waren stabile Gewölbe, die im Blick des Gewölbe-Zeugen keine bewegten Schwindelanfälle erregen sollten, gepriesene Normalität. Und mit dem Sanctus ihrer jeweiligen Religionen: in allen Architekturen aller Kulturen der vielberufenen Kulturgeschichte nichts weniger als ästhetische und sittliche Norm. 

Diese erfolgreiche Mauserung von Adam und Evas Hüttenbau scheint nun – nach wie vielen Jahrtausenden? – ihr Ende erreicht zu haben. Entweder, weil sie unerträglich langweilig wurde, oder weil sich ihre Planspiele und deren realisierbare Bauten nicht mehr überbieten lassen, - was beides auf dasselbe hinausläuft: Aufbruch zu neuen Ufern, um eine sterbensalt gewordene Welt und Kultur triumphierend hinter sich zu lassen.

Warum soll ein "verzerrtes Quadrat" nicht die gleichen oder vielleicht sogar bessere Dienste leisten als das ausgelaugte Primitiv-Quadrat? fragt sich unser Experte für dekonstruktivistische Architektur und Schönheit. Er meint nicht das Parallelogramm, den mit diesem würden wir uns doch nur wieder auf die alten Pfade langweiliger Stabilität begeben. Nur ein jeweils neuoriginell verschieftes Quadrat kann uns das Prinzip der neuen Stabilität in der Architektur der nächsten Jahrtausende zeigen. Hat jemals jemand bezweifelt, dass es so viele Verschiefungen des Quadrats wie "Personalstile" gibt – nicht nur in der schönen neuen Welt der jeweils neuesten Architekturmonster? Sondern davor schon in allen Künsten unserer ablaufenden Spätkultur?

Aber fürchtet Euch nicht: Auch das radikal verzerrte Quadrat kann und wird der neuen unsterblichen Architektur als stabile Grundlage dienen. Glaubt nur an Euer Glück, dann wird es Euch immer wieder überraschen. (The show must go on.)

Beim Beauftragen und beim Genuss der neuen Bauprodukte müsst ihr Euch natürlicherweise an die "begabtesten Architekten" in der wachsenden Heerschar der neuen Leonardos halten. Deren Geheimnis ist eigentlich fast schon ausgeplaudert: Sie bringen "alle Formen in Konflikt miteinander", alte und neue Quadrate, alte und neue Stile: Es wäre nicht der gute alte Eklektizismus, würde er sich am Ende von Kulturen nicht jedes Mal wieder als zukunftsweisender Stein der Weisen auftischen.

Und die fast schon vergessene, aber durchaus peinliche Frage: Wie unterscheiden wir unter den neuen Architekten die begabten von den unbegabten? Wie sondern wir die auserwählten Stars von den langweiligen Nicht-Stars? Diese Frage delegieren wir am besten an das Ende des angebrochenen Jahrtausends.

 

Leo Dorner ist ein österreichischer Philosoph.

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  1. elfenzauberin
    06. Januar 2023 22:56

    Dieser sehr lange, aber sehr kurzweilige Text beschreibt perfekt, warum ich kein Abo im Musikvereinssaal habe.

    Ich bin eben nicht bereit, Geld dafür auszugeben, um mir in teurer Garderobe eine Musik anzuhören, bei der es mir die Zehennägel aufrollt.

    Seit mehr als 100 Jahren ist es die höchste Maxime in solchen Künsten wie Musik, Architektur, Malerei und Literatur, krampfhaft irgend etwas neues zu erschaffen, wobei die Neuheit Vorrang vor Ästhetik hat.

    Und das ist aus meiner Sicht das Grundproblem der modernen, "dekonstruktiven" Kunst.

    Mozart soll sinngemäß einmal gesagt haben, Musik dürfe für das Ohr keine Beleidigung sein. Ich teile Mozarts Sichtweise, die es ermöglicht, all das, was uns als neuzeitliche Kunst angedreht werden soll, mühelos als häßlich zu erkennen.



    • Leodorn
      07. Januar 2023 14:46

      Ein kluger Kommentar aus der Sicht des "Konsumenten" - Ich bin ein noch ärgerer Traditionalist: eine Stunde Bach täglich - am Klavier.
      Die Aporie der Neuen Kunst ist unlösbar: Populär: es gibt keine Bremse, die ihre Fahrt gegen die Wand aufhalten könnte.

      Aber anderen ("innovativen") Konsumenten gefällts. Und an diese hängen sich die lobhudelnden Kulturjournalisten an. Und fertig ist der Brei einer Spätkultur, die einer "ewigen Postmoderen" frönt.-



  2. Pennpatrik
    04. Januar 2023 14:25

    Zur Architektur fallen mir einige Beispiele ein:
    - Es gibt südlich von Mexiko-City eine Aztekenstadt, deren Hauptstraße sich optisch verlängert oder verkleinert, je nachdem von welchem Zielpunkt man sie betrachtet (das Gefühl, länger oder kürzer zu gehen, entsteht).
    - Ein berühmter österreichischer Architekt sagte schon vor Jahrzehnten: Muss denn jedes Gebäude schon bei der Eröffnung so aussehen, als ob es ein Erdbeben hinter sich hat?
    - Die Südstadt war eine autofreie Gartenstadt, als es noch keine Parkprobleme gab, ist immer noch autofrei und man kann trotzdem überall mit dem Auto zufahren - ein geniales Konzept, wird aber nicht weiterverfolgt, weil sich die Menschen dort wohlfühlen.



    • Leodorn
      04. Januar 2023 19:37

      Zur Baukultur der Antike, auch der aztekischen, finden sich in Friedells Kulturgeschichte des Altertums viele interessante Beobachtungen. Vieles davon hat er sicher von Jacob Burckhardt übernommen. Dennoch.
      Das Leiden an unserer Baukultur teilen wir offensichtlich.

      Beim Linzer Rathaus versuchte man einen Ausweg: heute sagt und erkennt man: Zuckerbäckerstil. -
      Dagegen ist das Wiener Rathaus, obwohl „klassisch falsche Gotik“, noch ein Labsal.






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