Fast ein halbes Jahr habe ich den Selbstversuch durchgehalten, mein Umfeld mit zumindest redlich versuchter Neutralität und fast außerirdischer Distanz zu betrachten. Ich wollte einfach die Gedankengänge meiner politisch korrekten Mitmenschen und ihrer von Berlin bis Klagenfurt gleichlautenden Parolen ergründen und meine scheinbar nicht mehr zeitgemäße Einstellung als Konservativer, Christ, Traditionalist, Familienmensch und weiß Gott sonst noch was, zu hinterfragen.
Wie ein Psychotherapeut habe ich einfach zugehört und jegliche Diskussion vermieden, mir vorgestellt, politisch korrekt, milde überlegen lächelnd gegenüber ängstlichen Blicken der wenigen autochthonen Benutzer der U6 über die Pöbeleien betrunkener Afghanen hinwegzusehen, stolz von den mittlerweile ubiquitär auftretenden Berufsbettlern vor dem Supermarkt, nach einigen Euro Bestechung, unterwürfig begrüßt zu werden und ihnen das leere Einkaufswagerl quasi abzukaufen.
Ja, ich hätte jemand sein können im achten Bezirk, den ich seit nunmehr zwei Jahren bewohne. Ich habe meinen Laufsport intensiviert und viel abgenommen und habe begonnen, unsere Stadt in alle Himmelsrichtungen zu erkunden. Bevor der Selbstekel meinen zumindest teilweise gesünderen Lebensstil fundamental zu gefährden drohte, begann ich meine sportlichen Ausflüge zu dokumentieren und meine Erlebnisse mit den Erinnerungen aus meiner Kindheit und Jugend in Einklang zu bringen.
Mit der Überquerung des Gürtels verlässt man den Bobohorizont und landet in der trostlosen Realität, die diese Stadt wie eine unaufhaltsam wachsende Geschwulst ihrer Identität beraubt. Bisher glaubte ich durch die Tätigkeit in meiner Praxis mit dem bunten (vielfältigen!) Querschnitt unserer Bevölkerung mehr als vertraut zu sein, wobei der Respekt, den ich zu erhalten glaube, oftmals eher der Furcht vor unerwartetem Schmerz in sensiblen Körperregionen geschuldet zu sein scheint.
Die Station der U6 Josefstädterstraße ist umlungert von pöbelnden Betrunkenen und Drogensüchtigen aller Herren Länder, auf dem Gehsteig Erbrochenes, eine Blutlacke, blutige Handabdrücke an der Mauer der Stadtbahn, überall Uringestank. Wie ein letzter Zeuge altösterreichischer Zeiten ist das Gasthaus zum goldenen Pelikan am Beginn der Neulerchenfelder Straße gleichsam der Wachturm am Limes, der uns vom "vielfältigen" Wien trennt.
Von Beginn an säumen diese Straße zahlreiche orientalische Billigläden bis zum Yppenmarkt/Brunnenmarkt, den ich ob seiner Buntheit, dem Bauernmarkt und der teilweise gut integrierten türkischen Bevölkerung schätze – besonders den aufgeschlossenen Betreiber mehrerer türkischer Lokale, der mit seinem jüdischen Freund gerne den Orient bereist und den Käsehändler, der es immer schafft, mir herrliche französische Käse kiloweise zu einem guten Preis zu veräußern. Doch plötzlich, zurück auf der Straße Unruhe – ein getunter Mercedes G, im Anschaffungspreis sicherlich weit jenseits der 100.000 Euro, bleibt abrupt stehen und vier junge kurzgeschorener Männer, sichtlich östlicher Herkunft, entsteigen lässig und beginnen bei den einzelnen Geschäften, nach devotem Empfang von den Betreibern Geldscheine zu sammeln….
Der weitere Weg führt durch kleine Gassen mit zahlreichen muslimischen Kulturvereinen, welche die einst an fast jedem Eck vorhandenen Gasthäuser ersetzen. Kurz habe ich den Schnitzelgeruch in der Nase und den Geschmack nach frischem Erdäpfelsalat, der damals noch nicht aus dem Kübel vom Metro kam, am Gaumen. In der Thaliastraße hat gerade in der ehemaligen Parfumerie meiner Großmutter ein Kebablokal (übrigens neben ca. 30 anderen in dieser Straße) eröffnet. (Würde man alle Kebablokale in Wien zusammenzählen, müsste man zum Schluss kommen, dass sich die Wiener von nichts Anderem ernähren).
Also trabe ich in die Hasnerstraße, in der sich auch ein Geschäft und die Wohnung meiner Großmutter befand, dessen schöne alte hölzerne Ausstattung mit einer geschnitzten Galerie auch als Antiquariat noch nach 40 Jahren den Geruch nach Spiritus und Parfum verströmte. Nun beherbergt sie nach kompletter Entkernung eine Großfamilie. Weiter geht es entlang mächtiger Gemeindebauten aus den 1920er Jahren.
Eine alte Dame quält sich mit ihrem Einkauf die Pfenniggeldgasse hinauf, als ich ihr meine Hilfe anbiete, blickt sie mich erschrocken an, da ihr das in den letzten Jahren nicht widerfahren ist. Im kurzen Gespräch erfahre ich, dass sie die letzte Österreicherin im Bau sei und man ihr immer wieder nahelegt, doch ins Altersheim zu gehen, was sie kategorisch ablehnt, da ihr ja nur mehr die gewohnte Gegend als Heimat geblieben ist. Eine Kommunikation mit den lärmenden Nachbarn sei aufgrund sprachlicher Probleme nicht möglich.
Besuch erhält die kinderlos gebliebene Frau nur von Bezirksfunktionären der SPÖ unmittelbar vor den Wahlen, die mit allerlei Versprechungen um ihre Stimme betteln. Auch erfahre ich, dass sie Kellnerin im Stammgasthaus meines Großvaters war und sich noch an meine Großeltern erinnern könne, die Anfang der 1970er Jahre verstorben sind. Auch das Wirtshaus ist nicht mehr da – kurz erscheint ein Bild meiner frühen Kindheit, als sonntags Vormittag die Gaststube gefüllt war mit Männern im Anzug beim Frühschoppen, die lachend und böhmakelnd dem "Schurl mit der Blechhauben" ein Spezi spendierten.
Der weitere Weg führt mich am Ottakringer Friedhof vorbei. Dort liegt wahrlich das alte Ottakring begraben; den Gärtner mit seinem Wiener Mundwerk, der unsere Familie jahrzehntelang mit Blumen und Kränzen zu allen Anlässen versorgt hat, gibt es auch nicht mehr, genauso wie die großen Gasthäuser, die den letzten Weg der "schönen Leich" kulinarisch gekrönt haben. Auch verschwunden ist das Biedermeiergasthaus "Zum alten Drahrer" in der Liebhartstalgasse mit der legendären reschen Wirtin und Sängerin Anni Demuth, die bis in die Neunziger das Wienerlied kultivierte.
Plötzlich fiel mir mein erster Besuch als Student ein, als mich die hantige ehemalige Zirkusartistin fragte, was ich da wolle. Nach ein paar Vierterln des in meiner Erinnerung sehr sauren Weines löste sich die gespannte Atmosphäre rasch und beim nächsten Besuch wurde man mit einem kurzen "Seavas, durt setz di hin"geadelt.
Es geht weiter am Schloss Wilhelminenberg vorbei. Nicht nur ein aufziehendes Gewitter lässt eine schaurige Stimmung aufkommen, fast glaubt man die Schreie der dort von politischen Funktionären missbrauchten Kinder zu hören. Bevor die Wut über die Vertuschung der grauenvollen Ereignisse durch das rote Wien hochkommt, laufe ich schnell weiter und die Wilhelminenstraße hinunter.
Ich mäandriere durch kleine Gassen, in denen zahlreiche Häuser aus dem Biedermeier und der Gründerzeit gesichtslosen Neubauten weichen und diesem Bezirk endgültig das historische Gesicht rauben. Vor der Ottakringer Brauerei mischt sich der Schokoladeduft der Mannerfabrik mit intensivem Hefegeruch.
Rauchende junge Männer bevölkern türkische und jugoslawische Lokale der Ottakringer Straße – ob sie alle auch, wie ich, einen freien Vormittag haben? Noch ein paar Schritte und über den Gürtel, dann bin ich wieder in meinem Biotop – oder doch bürgerlichen Ghetto? Überall gut gekleidete Menschen, junge Männer, die Kinderwägen schieben, ein Stand der Grünen vor dem Cafe Hummel, man gefällt sich in tiefschürfenden politisch korrekten Gesprächen über die Rettung der Welt, soziale Gerechtigkeit, die unglaubliche Bereicherung durch Migranten und schmiedet Pläne, das Land von den neuen Nazis zu befreien – aber stets in sicherer Distanz zum alten Linienwall.
Den fremden Ort jenseits des Gürtels betritt man nicht, sonst könnte sich die schöne und gerechte Illusion abrupt ins Nichts auflösen. Das Faktum, dass hier längst eine eigenständige Parallelwelt entstanden ist, wird empört und angewidert als häretisches rechtes Hirngespinst abgetan. Die reiche Geschichte dieser Stadt und ihrer einst wahrlich vielfältigen, aber immer integrationswilligen Einwohner spiegelt sich lediglich in Fragmenten in der von Touristenhorden gestürmten Innenstadt als Habsburger-Disneyland wider. Wie üblich kehre ich fassungslos über die verlorene Seele dieser Stadt heim und plane die nächste Jagd nach Zeugen einer vergangenen Welt, die meinen Kindern für immer verborgen bleiben wird.
Dr. Georg Ludvik ist niedergelassener Facharzt für Urologie in Wien.
Danke für den erschütternden Bericht !
Sehr geehrter Herr Doktor,
Danke für Ihren Bericht! Es ist so traurig, was aus meiner ehemaligen Heimat geworden ist.
ich habe 25 Jahre in Ottakring gelebt, nicht in den verschonten Gegenden!
Und doch habe ich Wien, meinen Bezirk geliebt, habe dort gerne gelebt, meinen Freundes- und Bekanntenkreis dort gehabt, gute nachbarschaftliche Verbindungen, man kannte sich auf der Straße, wenn man einkaufen oder spazieren ging, konnte ein Tratscherl "abhalten".
Dann hat sich das rapid geändert - immer mehr Läden, genauso wie Sie es beschreiben, wichen Handyshops, Kebabständen usw., immer mehr fremde Sprachen in den Öffis, immer mehr befremdende Kleidung, Lärm, verschmutzte Parks...
Selbst der Brunnenmarkt - ich kenne nur noch einen (türkischen) Händler aus dieser Zeit, der aber auch aufgrund seines Alters bald in Rente gehen wird* - ist nicht mehr zu erkennen!
(*Wenn ich dort vorbeikomme trinken wir noch immer gemeinsam Kaffee und reden über die alten Zeiten. Er selbst faßt nicht, was da in Wien passiert ist, auch der Markt ist lange nicht mehr das, was er einmal war, sagt er und ist froh, daß er sich bald zurückziehen kann.)
Meine ehemalige Wohngegend habe ich das letzte Mal vor 3 Jahren besucht - mir ist die Luft weggeblieben und ich hatte Tränen in den Augen als ich sehen mußte, was daraus geworden ist. Ich werde dort nicht mehr hinfahren, es ist zu traurig.
Ich habe einen Platz, der mir liebe und geborgene Heimat war, verloren! Ich kenne natürlich das Sprichwort, daß man nie 2x in denselben Fluß steigt '(Panta rhei),
Aber selbst wenn man wieder hineingehen möchte, wissend, daß anderes Wasser da fließt, weiß man nunmehr, daß man darin verlorengeht, ganz anders als damals, als der Fluß noch gesund und hell floß.....
Auch ich möchte Ihnen für diese traurige Wahrheit danken.
Man kann hingehen, wo man will, auch am Land ist es so.
In meinem früheren Heimatdorf in Niederösterreich (60 Häuser), da ist es noch so, wie es war, es sind halt jetzt die Kinder und Enkel dort. Bloß von 2 Gasthäusern gibt nur noch eines, da hatte das Dorf Glück, denn dort sind alle Gasthäuser voll mit Gästen von weit und breit, weil es fast nirgendwo mehr welche gibt.
In den Märktgemeinden sind jetzt chinesische Lokale, Kebapbuden, aber auch kaum noch Gasthäuser. Je größer die Ortschaften werden, desto 'durchmischter' sind sie mit fremden, nicht integrierten, Kulturen und Religionen, gehen ja auch immer weniger am Sonntag in die Kirche.
Österreich hatte ja einen 'Integrationsminister' Kurz unter der Führung der 'Willkommensklatscher'.
Wo sind die Tschechen heute, die Ungarn, die Polen, viele sind noch hier, aber auch viele wieder zu Hause, wo es inzwischen besser ist.
Ja, wie Sie auch richtig feststellen, am Friedhof findet man noch unsere Identität.
Die gewählte Identität ist inzwischen eine andere geworden.
Wien ist doch weltweit die lebenswerteste Stadt! Das gilt aber nur für die rote Mafia im Rathaus. Die Verräter verhöhnen uns noch.
Sehr geehrter Herr Doktor,
ein erschütternder Bericht über Zustände die ich leider bestätigen muss,
ich war kürzlich beruflich am Brunnen/Yppenmarkt.
Als ein der mitteleuropäischen Lebensart zugetaner Besucher will ich nur weg, ich fühle mich dort nicht wohl:
Maximalvermummte Damen, überall die Angebote von "speziell Geschlachtetem".
Ich stelle mir gerade eine "Urwiener" Familie vor die seit Jahrzehnten da wohnt und die Veränderungen dort erlebt, Tag für Tag.
Wann werden die einen Verein gründen: "Urwiener Minderheit in Ottakring"?
Zum Hohn dann an der Haltestelle eine Werbung:
"die lebenswerteste Stadt der Welt",
verkündet von einem/einer selbstgefällig lächelnden Apparatisc
Danke - man sieht es, man spürt es, ist erschüttert und resigniert.
Großartig! Vielen Dank! Nur: was sollen bzw können wir tun?????