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Ein klarer außenpolitischer Fehler

Es ist unklug, dass sich Österreich bei der europäischen Protestaktion gegen den russischen Giftanschlag abseits hält. Während man aber über dieses Abseitsstehen zumindest noch diskutieren kann, ist jedenfalls die regierungsoffizielle Begründung für dieses Verhalten schlicht eine Katastrophe. Dennoch ist es zugleich lächerlich, dass ausgerechnet die SPÖ diese Russlandfreundlichkeit kritisiert.

Die Hinweise grenzen an Gewissheit, dass Exponenten Russlands den Giftanschlag auf einen ehemaligen Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes in England zu verantworten haben.

  • Dafür spricht nicht nur der Umstand, dass das verwendete Gift nach allen bekannten Indizien nur aus Russland stammen kann.
  • Dafür spricht nicht nur der Umstand, dass jeder westliche Geheimdienst – sollte es auch bei einem solchen eventuell ein bisher unbekanntes Mordmotiv gegeben haben – weit unauffälligere Wege für die Tat gehabt hätte.
  • Dafür spricht insbesondere auch die Suche nach einem Motiv, das nur auf russischer Seite zu finden ist. Dort ist es aber enorm stark und lautet: Wer aus der internen Pech-und-Schwefel-Solidarität eines Geheimdienstes ausbricht, ist ein Verräter, der schon aus Abschreckungsgründen zu beseitigen ist, damit alle anderen wissen: Wir erwischen Verräter weltweit. Außerdem dürften da immer noch manche gefürchtet haben, dass der Mann zuviel ausplaudern könnte.

Eher unsicher ist hingegen, ob der Anschlag auch von Präsident Putin direkt beauftragt worden ist. Zwar stammt Putin aus dem Innersten des russischen Geheimdienstes, aber das heißt noch nicht zwingend, dass er selbst den Auftrag zum Mordanschlag gegeben hätte. Solche Dienste führen oft ein Eigenleben im Dunkeln, in dem sie sich nicht jede Aktion absegnen lassen.

Jedoch hat sich die russische Regierung jedenfalls dadurch schuldig gemacht, dass sie nicht einmal Ansätze zu einer grundlegenden Untersuchung der Affäre unternommen hat.

Moskau ist auch deswegen ins Zwielicht geraten, weil es praktisch jeden Tag eine andere Propagandaversion zu dem Giftanschlag präsentiert. Einmal waren es die Tschechen, einmal die Amerikaner, einmal die Briten selber.

Es wäre Österreich aber auch noch aus einem ganz anderen Grund gut angestanden, bei der – ohnedies eher symbolischen – Reaktion auf den Giftanschlag mitzumachen. Denn die Republik hat EU-intern eine Reihe wichtiger und schwieriger eigener Anliegen durchzubringen: Diese reichen vom zentralen Interesse an einer effizienteren europäischen Abschiebungspolitik über die dringend notwendige Einschränkung der extensiven Asylpraxis europäischer Gerichtshöfe bis zur Anpassung von Sozialleistungen an die jeweiligen Lebenshaltungskosten eines Landes.

Daher wäre es klug gewesen, dort, wo es nicht um eigene Interessen der Republik geht, Solidarität mit der großen Mehrheit der Europäer zu zeigen. Wir brauchen sie nämlich.

Das wäre insbesondere auch deshalb klug gewesen, weil sich Österreichs neue Regierung – zu Recht, da es um die weitaus wichtigste Bedrohung der Zukunft geht! – ohnedies schon in Sachen Migration mit der deutschen Bundeskanzlerin und ihren Flügeladjutanten anlegen hat müssen. Da ist es einfach dumm und überflüssig, auch in letztlich sekundären Fragen die Rolle des Einzelgängers und Außenseiters zu wählen.

Das wird den Interessen des Landes nur schaden. Das wird in Europa den Österreich-Kritikern wieder breiten Raum geben. Das ist auch deshalb besonders schade, als Sebastian Kurz gerade dabei war, sich zu einem europäischen Akteur von respektiertem Format zu entwickeln.

Dieser Fehler wird noch dadurch verschlimmert, dass sich sogar Länder wie Ungarn oder Tschechien zumindest symbolisch durch die Ausweisung jeweils eines russischen Diplomaten an der Aktion beteiligt haben. Dabei sind beide Länder zuletzt eher als Sympathisanten Russlands ins Gerede gekommen. Ungarn auch wegen der engen neuerlichen Kooperation mit Russland beim Ausbau des Atomkraftwerks Paks.

Überdies hat die schwarzblaue Regierung weltweit ohnedies einen Misstrauensvorschuss wegen des nach wie vor gültigen Freundschaftspaktes zwischen der FPÖ und der russischen Machtpartei zu überwinden. Dieser Pakt ist ja angesichts der nicht gerade üppigen demokratischen und rechtsstaatlichen Realität Russlands der dickste Minuspunkt im Zeugnis der FPÖ.

Überdies verbreiten linke Medien in Österreich gerade die eher unseriöse Raubersgeschichte, wonach westliche Geheimdienste Sorge hätten, dass wegen der FPÖ-Regierungsbeteiligung über Österreich sensible Informationen nach Russland gelangen könnten. Österreichs Nachrichtendienste leben ja von Informationen, die ihnen westliche Kollegen zukommen lassen. Selbst haben sie ja nicht sonderlich viel zu bieten. Da sollte man doppelt vorsichtig sein, solchen Verschwörungstheorien nicht echtes Futter zu geben.

Aber auch die ÖVP schaut gar nicht gut aus, hat doch gerade der (im Herbst recht unfreiwillig  abgesägte) Ex-Finanzminister Hans Jörg Schelling beim russischen Energieriesen Gazprom angeheuert. Und die ganze Regierung unterstützt gegen den Willen der meisten anderen Staaten Europas den Bau einer ziemlich überflüssigen russischen Pipeline durch die Ostsee.

Österreich hat in den letzten Jahren hunderte Male – zu Recht – die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik beschworen. Das macht es doppelt unverständlich, wenn man jetzt bei Fragen ausschert, wo man gar keine eigenen Interessen hat.

Warum Europa selbst strategischer denken sollte

Das alles heißt freilich nicht, dass Österreich nicht EU-intern – intern! – eine etwas zurückhaltendere gemeinsame – gemeinsame! – Reaktion auf die russische Gift-Aggression empfehlen hätte sollen. Dafür hätte man folgende zwei Gründe ins Treffen führen können:

Erstens: Hätte man eine internationale Untersuchung abgewartet, die über die britischen Recherchen hinausgeht, hätte man den Vorwürfen zusätzliches Gewicht verschaffen können.

Freilich haben auch die Gegenargumente Gewicht: Solche internationalen Untersuchungen brauchen immer elendslang, sodass die Welt am Ende schon fast wieder vergessen hat, worum es eigentlich gegangen ist. Andererseits basieren die britischen Vorwürfe gegen Russland nicht zuletzt auf Erkenntnissen der eigenen Geheimdienste (und Spione), deren Quellen London keinesfalls preisgeben kann. Daher bleibt die Beweisfrage wohl doch eine Vertrauensfrage. Und die spricht im Vergleich zu den Russen eindeutig für die Briten als weitgehend makelloser Rechtsstaat und (Noch-)EU-Partner.

Zweitens: Ein strategisch denkendes Europas müsste dringend erkennen, dass es unklug ist, sich gleichzeitig mit zwei großen Rechtsbrechern an der europäischen Außengrenze anzulegen. Europa drängt Russland und Türkei dadurch in eine Interessenallianz. Diese Allianz steht total im Gegensatz zur Geschichte der letzten zweihundert Jahre, wo die Türken und Russen stets (wegen des Balkans, wegen des Bosporus und Zugangs zum Schwarzen Meer) im Konfliktzustand gelegen sind.

Eine Strategie, die das vermeiden will, müsste auf den Erfahrungen des zweiten Weltkriegs aufbauen: Auch damals musste sich der Westen notgedrungen mit Stalin arrangieren, weil anders Hitler nicht niederzuringen gewesen wäre.

So wie damals müsste strategisches Denken zur Frage führen: Wer ist das geringere Übel? Die Antwort ist klar: Das ist im Vergleich zu Erdogan eindeutig Putin. Ähnlich wie das Deutsche Reich damals ist heute die Türkei die viel größere Bedrohung für die freie Welt als Russland, das zwar ebenfalls Verbrechen begeht und Eroberungsfeldzüge führt. Das aber demographisch wie ökonomisch heute im Abstieg ist. Das heute zwar wieder autoritär, aber keineswegs mehr wie zu Stalins Zeiten totalitär ist. Das heute nur nationale, aber nicht darüber hinaus auch ideologische Interessen jenseits von Recht und Staatsgrenzen verfolgt.

Gegen die Erkenntnis, dass die Türkei eindeutig für Europa viel gefährlicher ist als Russland, gibt es kein sachliches Gegenargument:

  1. Die Türkei bedroht direkt EU-Mitglieder, von Zypern bis Griechenland.
  2. Sie geht militärisch gegen die Erdgas-Förderung im Meeressockel zwischen Zypern und Israel vor.
  3. Sie ist eindeutig wichtiger Drahtzieher der Migrations-Schlepperei und der illegalen Migration Hunderttausender Asiaten Richtung Europa.
  4. Sie führt viel blutigere Eroberungskriege als Russland, die auch noch keineswegs zu Ende sind (während Moskau zumindest so tut, als ob es jetzt friedlicher geworden wäre und mit keinen neuen Feldzügen droht).
  5. Sie ist zur imperialen und islamistisch-offensiven Haltung des vor hundert Jahren beendeten Osmanischen Reiches zurückgekehrt. Diese Aggression konnte (zweimal) erst an den Stadtmauern Wiens gestoppt werden.
  6. Sie hat viel mehr politische Gefangene in Haft geworfen als Russland.
  7. Sie ist auch eine Bedrohung für Teile der arabischen Welt und Israel.
  8. Sie unterdrückt die Kurden schlimmer, als in den letzten Jahrzehnten irgendwo in einem europäischen oder halbeuropäischen Land eine Ethnie unterdrückt worden ist. Und sie tut das auch außerhalb der türkischen Grenzen (freilich ist diese Unterdrückung auch innerhalb der Grenzen eine widerliche Sauerei).

Umso demütigender ist die knieweiche Haltung, welche die EU beim jüngsten Zusammentreffen mit dem türkischen Machthaber Erdogan an den Tag gelegt hat. So sprach Kommissionspräsident Juncker nach dem Treffen davon, dass es "unerlässlich" sei, dass die Türkei ihre Beziehungen zu Griechenland und Zypern verbessere. Außerdem solle sich die Türkei die Frage der inhaftierten Journalisten und griechischen(!) Soldaten "noch einmal anschauen".

Noch einmal anschauen! Das hat er wirklich gesagt.

Das einzige, was nicht überliefert ist, wie stark das Gelächter war, in das Erdogan ob solch "starker" Worte der EU ausgebrochen ist. Faktum ist hingegen, dass Brüssel nicht daran denkt, türkische Diplomaten hinauszuwerfen. Faktum ist, dass es nach wie vor die Türkei als Beitrittskandidat zur EU behandelt.

In Sachen Migration und türkischer Bedrohung ist also ein starkes Auftreten Österreichs und notfalls sogar ein Alleingang mehr als berechtigt. Aber eben bitte nicht auch in jeder anderen Frage.

Es ist schlicht dumm, die Neutralität ins Spiel zu bringen

Was aber wirklich ganz schlimm und dumm ist: Schwarzblau begründen die österreichische Haltung zum russischen Giftanschlag nicht mit einem dieser Argumente, sondern mit – der Neutralität. Das ist wirklich ein schlimmer Anfängerfehler.

Jahrzehntelang haben Österreichs Außenpolitiker, Diplomaten und Völkerrechtler nämlich genau gewusst, was die jetzige Regierung offenbar nicht mehr weiß: Es ist absolut nie im Interesse Österreichs, von sich aus die immerwährende Neutralität des Landes als Argument ins Spiel zu bringen. Denn:

  1. Die Neutralität ist völkerrechtlich nur eine Verhaltensweise im Krieg. Von einem solchen sind wir aber weit entfernt. Schon deshalb sollte man sie jetzt nicht selbst ins Spiel bringen.
  2. Die Neutralität ist beim EU-Beitritt überdies verfassungsrechtlich noch zusätzlich eingeschränkt und hinter die EU-Mitgliedschaft gereiht worden.
  3. Immer wieder haben österreichische Politiker aller Couleurs in den letzten Jahren betont, dass sie FÜR eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik sind – aber kaum gibt es zarte Ansätze einer solchen, büchst Österreich wieder aus.
  4. Die Berufung auf die Neutralität – also ein Institut des internationalen Rechts! – erweckt in manchen anderen Staaten sofort die Reaktion, dass sie mitreden könnten, dass sie Österreich Vorschriften machen könnten.
  5. 1955 im Jahr des Neutralitätsgesetzes haben Schwarz wie Rot wie Blau die geistig-politische Zugehörigkeit zum Westen – trotz der Neutralität! – betont. Und auch danach haben sie, mit Ausnahme einiger antiwestlicher Reflexe Bruno Kreiskys, daran festgehalten. Der erfahrene Diplomat und Außenpolitiker Rudolf Kirchschläger etwa hat es immer abgelehnt, von einer "Brückenfunktion" Österreichs zwischen Ost und West zu sprechen, und verlangt, dass Österreich am westlichen Ufer fest verankert sein soll.
  6. Vor allem die Sowjetunion hat das Wort "Neutralität" immer wieder verwendet, um Österreich Vorschriften zu machen, und insbesondere, um den Beitritt Österreichs zur EU zu verbieten. Das war einst sehr bedrohlich und lange das Hauptproblem der österreichischen Außenpolitik.

Man greift sich daher an den Kopf, wenn Österreich jetzt selbst die Neutralität ins Spiel bringt und damit sein Abseitsstehen begründet. Das ist eindeutig ein schwerer außenpolitischer Schnitzer von Kneissl und Kurz.

Nur die SPÖ hat keine Berechtigung, daran Kritik zu üben. Denn ihr Oberpate Heinz Fischer, der sich seit seinem Präsidentschaftsende von Tag zu Tag ja mehr als wahrer Führer des chaotischen Haufens namens SPÖ profiliert, war seit Jahren vorderster Exponent einer Anbiederung an Putin unter allen europäischen Staats- und Regierungschefs. Da sollte die SPÖ lieber den Mund halten.

PS: Hat irgendjemand etwas vom angeblichen Europaminister Blümel gehört? Warum schweigt der eigentlich zur wichtigsten europapolitischen Frage der ersten hundert Tage ebenso, wie er auch zu sämtlichen anderen Themen, für die er zuständig ist, bisher nichts von Substanz gesagt hat?

PPS: Auch wenn man keine Zweifel an der russischen Urheberschaft des Giftanschlags hat, bleibt der Hass absurd, mit denen die US-Demokraten und mit ihnen einige Justizfunktionäre die Versuche des Präsidenten, mit Russland ins Gespräch zu kommen, zum Verbrechen zu stempeln versuchen.

PPPS: Noch lächerlicher als alle Erwähnten macht sich das EU-Parlament: In der spannendsten außenpolitischen Periode (zu der natürlich auch der von Washington angedrohte Handeslkrieg kommt!) dominiert dort nur eine Sorge: dass es bei der Bestellung des neuen Generalsekretärs der Kommission zu schnell zugegangen sei.

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