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Finnlands Geheimnis: Vielfalt statt Standardisierung

Ein gemeinsames Charakteristikum der fünf Gesamtschulstaaten im Norden Europas ist das extrem hohe kulturelle und sozioökonomische Niveau, das 15-Jährigen in ihrem Elternhaus geboten wird. Die Familie genießt in Finnland hohe Wertschätzung und ist der Gesellschaft auch in ökonomischer Hinsicht viel wert. Haushalte, in denen junge Menschen aufwachsen, partizipieren weit stärker am wirtschaftlichen Wohlstand des Landes, als dies in Österreich der Fall ist.

Das Lesen hat in Finnlands Familien einen besonderen Stellenwert, wofür es viele Ursachen gibt, auch historische, die maßgeblich auf das Wirken der evangelisch-lutherischen Kirche zurückgehen. Schon im 17. Jahrhundert erhob sie die Forderung, dass alle Menschen lesen lernen sollen, um Bibelstudium betreiben zu können. Im 18. Jahrhundert wurde die Lesefähigkeit sogar zu einer Bedingung, um heiraten zu dürfen, und damit zum Standard von Eltern. Noch heute hat Finnland eines der dichtesten Netze von Büchereien. In keinem anderen Land der Welt werden so viele Bücher entlehnt wie in Finnland.

„Sisu“ ist eine typische Eigenschaft der finnischen Bevölkerung. Univ.-Prof. Dr. Pasi Sahlberg, der international bekannteste Kenner des finnischen Schulwesens, beschreibt „Sisu“ folgendermaßen: „The word does not properly translate into other languages, but it roughly means “determination”, “inner strength”, “resoluteness”, or “perseverance” during times of adversity.[1] „Sisu“ ist wohl auch auf Finnlands Geschichte mit langen Zeiten von Besetzung, Kriegen und Armut zurückzuführen und wird Kindern schon im Elternhaus vorgelebt und vermittelt. Sahlberg sieht in dieser an Ostasien erinnernden Mentalität eine Ursache für den Erfolg bei internationalen Leistungsvergleichen.

Während in den meisten Staaten Europas die Politik den Empfehlungen der OECD gehorcht und danach trachtet, möglichst alle Kinder möglichst früh in elementarpädagogische Einrichtungen zu bekommen, setzt Finnland schon im vorschulischen Alter auf Vielfalt und Qualität anstelle von Quantität und Gleichbehandlung. Viele Kinder besuchen den Kindergarten nur ein, zwei Jahre, Finnland aber gelingt, was nur wenige Staaten schaffen: Kinder, die einen besonderen Förderbedarf aufweisen, besuchen den Kindergarten schon früher und damit länger.

Eine besondere Stärke des finnischen Schulwesens ist das schnelle und intensive Eingehen auf besondere Bedürfnisse. Die Selbstverständlichkeit, mit der man sich der „special needs“ junger Menschen annimmt, und die dafür zur Verfügung stehenden Strukturen sind meiner Meinung nach vorbildlich: Es ist die Aufgabe der Lehrer, individuelle Schwächen zu erkennen und mitzuteilen. Für deren Behebung aber gibt es an jeder Schule – anders als in Österreich, wo man glaubt, die Lehrkraft könne dies „so nebenbei“ erledigen – ein vielfältiges Team von Supportkräften, das dafür verantwortlich ist, die für das jeweilige Kind optimale sonderpädagogische Förderung in die Wege zu leiten.

Dass ein gemeinsamer Unterricht aller Kinder insbesondere jenen mit Handicaps nicht gerecht werden kann, wurde in Finnland nach Einführung der Gesamtschule bald erkannt. Erste Maßnahmen wurden schnell gesetzt. Seit den frühen 90er Jahren aber erlebte Finnlands umfangreiches und vielfältiges System sonderpädagogischer Förderung ein geradezu explosives Wachstum. Im Lauf eines Jahres erhalten inzwischen etwa 30 Prozent der Schüler „special education services“. Die Sonderpädagogik ist ein, vielleicht sogar das Asset des finnischen Schulwesens.

Vielfalt statt Standardisierung: Sahlberg reagierte auf die jahrelang gepflegte Chuzpe, Finnlands PISA-Erfolg als Argument für die Standardisierung zu missbrauchen, deutlich: „Standardisierung ist für uns der größte Feind von Kreativität und Innovation in der Schule.[2]

Vertrauen statt Kontrolle: Der Wechsel von einem System der Kontrolle zu einem des Vertrauens setzte in Finnland in den späten 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts ein. Wenig später, im Jahr 1991, wurden Schulinspektionen, die in Finnland in früheren Jahrzehnten einen hohen Stellenwert genossen hatten, generell abgeschafft. Ersetzt wurde die Kontrolle durch das Vertrauen in die Schulen und die Professionalität und das Verantwortungsbewusstsein der Lehrer. Man könnte glauben, dass Schulleiter nach Abschaffung externer Schulinspektionen den Unterricht umso häufiger kontrollieren müssen. Das Gegenteil ist der Fall: Finnland gehört bei TALIS 2013 zu den Staaten, in denen die Schulleiter den Unterricht ihrer Lehrer am seltensten inspizieren.[3]

Lehrer genießen nicht nur das Vertrauen, sondern darauf aufbauend eine große persönliche Freiheit in der Gestaltung ihres Unterrichts. Autonomie, ein Begriff, der in Österreich schon so oft politisch missbraucht wurde, dass ihn viele Lehrer nicht mehr hören wollen, bedeutet in Finnland in erster Linie die Freiheit der Lehrkraft, den Unterricht eigenverantwortlich zu gestalten. Bevormundung und Kontrolle von Lehrer sind in Finnland weitgehend unbekannt.

Finnlands Lehrer wurden nicht zu „Lernbegleiter“ degradiert, sondern treten im Klassenzimmer als durchaus leistungsorientierte „leaders” auf. Sie sind die „experts on teaching“ und genießen höchstes gesellschaftliches Ansehen. Auch die OECD hat die Wertschätzung für Lehrer inzwischen als besonderes Asset Finnlands erkannt, das in diesem Ausmaß sonst nur bei den südostasiatischen PISA-Siegern zu finden ist.

Angesichts der beruflichen Rahmenbedingungen (niedrige Lehrverpflichtung, kleine Klassen, umfangreiches Supportpersonal, faire Bezahlung, pädagogische Freiheit, gesellschaftliche Wertschätzung) verwundert es nicht, dass der Lehrberuf, für den es in immer mehr Staaten an Nachwuchs fehlt, in Finnland für junge Menschen attraktiv ist wie kaum ein anderer. Unter den leistungsstärksten Maturanten ist das Lehramt die präferierte Studienwahl. Je nach Lehramt und Universität bewerben sich etwa zehn Mal mehr junge Menschen um ein Lehramtsstudium, als Universitätsplätze zur Verfügung gestellt werden. Von diesem Privileg, das Finnland mit den ostasiatischen PISA-Siegern teilt, ist Österreich nach vielen Jahren verantwortungsloser Schulpolitik leider weit entfernt.

Finnlands Schulwesen blieb bisher auch eine Entwicklung erspart, die OECD-weit zu beobachten ist, dass sich nämlich immer mehr Lehrer oft schon nach wenigen Berufsjahren nach einem attraktiveren Beruf umsehen und ihr Lehrerdasein beenden.

Unterricht von Lehrern in Gegenständen, für die sie nicht ausgebildet sind, ist in Finnland, anders als in Österreich (v. a. an Österreichs Pflichtschulen), so selten wie in nur wenigen OECD-Staaten.

Finnlands große Schwäche

So erfolgreich Finnland im Umgang mit „special needs“ sonst ist, so erfolglos war es bisher im Umgang mit jungen Menschen, die die Unterrichtssprache nicht als Erstsprache erlernt haben. Nie und nimmer wäre Finnland ein PISA-Sieger, gäbe es in Finnland Immigration in einem Ausmaß, wie wir sie in Österreich seit Jahrzehnten erleben. Und das, obwohl die wenigen Schüler Finnlands mit Migrationshintergrund eine weit bessere Ausgangsposition für schulischen Erfolg mitbringen, als dies in Österreich der Fall ist. Aus einem „high-income country“ stammt in Österreich ein Drittel der Immigrierenden, in Finnland sind es fast zwei Drittel. Nur 7 Prozent der berufstätigen Menschen, die nach Finnland immigrierten, üben „low skilled jobs“ aus, in Österreich hingegen 38 Prozent.

Dennoch blieben 15-Jährige mit Migrationshintergrund in Finnland bei PISA 2012 (Mathematik) mit einem Rückstand von durchschnittlich zweieinhalb Jahren um noch ein Lernjahr weiter zurück, als dies in Österreich der Fall ist. Nach Berücksichtigung des sozioökonomischen Backgrounds fielen Finnlands 15-jährige Migranten doppelt so stark ab wie in Österreich. Noch schwächere Leistungen als in Finnland erbrachten 15-Jährige mit Migrationshintergrund nur in Mexiko, Griechenland und Schweden.

Dr. Lorenz Lassnigg bringt es auf den Punkt: Finnland ist das Land „mit dem größtem Kompetenzunterschied und dem kleinstem Anteil an Personen mit Migrationshintergrund.[4] Das finnische Schulwesen ist bis jetzt bei der Förderung von Migranten katastrophal gescheitert. Finnlands Schulpolitik ist sich dieses Scheiterns bewusst und hat die Bildung von Kindern mit Migrationshintergrund zu einem Schwerpunkt des derzeit gültigen Entwicklungsplans gemacht. Wird Österreich mit einer der höchsten Zuwanderungsraten Europas von Finnland mit einer der niedrigsten Zuwanderungsrate bald auch diesbezüglich etwas lernen können?

Die Gesamtschulstaaten im hohen Norden Europas sind bei PISA keineswegs erfolgreich: In Schweden, Norwegen, Island und Dänemark, also in vier der fünf Gesamtschulstaaten des europäischen Nordens, erzielten die Schüler bei PISA 2012 schwächere Ergebnisse als Österreichs Schüler, einzig und allein die Finnlands waren besser. Und das, obwohl in allen fünf Gesamtschulstaaten dem Schulwesen weit bessere Rahmenbedingungen geboten werden, als dies in Österreich der Fall ist.

Finnlands Erfolgsgeheimnis liegt im ersten Lebensjahrzehnt

Wer Finnlands Vorsprung bei PISA auf die Gesamtschule zurückführt, scheint nicht zu wissen, dass Finnland bei den 10-Jährigen einen noch weit größeren Vorsprung aufweist als bei den 15-Jährigen. Gemessen am Maßstab der internationalen Testungen PIRLS, TIMSS und PISA ist also Österreich während seiner differenzierten Sekundarstufe I erfolgreicher als Finnland, das in der Sekundarstufe I keine äußere Differenzierung kennt.

Seit PIAAC 2012 werden die drei bisherigen internationalen Tests durch ein „PISA für Erwachsene“ ergänzt. Österreichs 16- bis 29-Jährige übertreffen dabei in ihren Mathematikleistungen ihre Altersgefährten in Finnland. Die enormen Rückstände, die Österreichs 10-Jährige aufweisen, werden also während der Sekundarstufe I deutlich verkleinert und während der Sekundarstufe II sogar zu einem Vorsprung verwandelt.

Wichtigere Erfolgsparameter für ein Schulwesen als PIRLS, TIMSS, PISA und PIAAC

Finnlands Schüler fühlen sich in der Schule weit weniger wohl als die Österreichs, sind ihrer Einschätzung nach ihrer Schule weit weniger verbunden als unsere und weit häufiger in ihr unglücklich. In Finnland fallen deutlich mehr junge Menschen ohne Abschluss der Sekundarstufe II aus dem Schulwesen als in Österreich.

Finnland gehört zu den zehn OECD-Staaten mit dem höchsten Anteil an 20-Jährigen, die die Sekundarstufe II noch nicht erfolgreich beendet haben. Auch wenn es kaum ein Repetieren in unserem Sinn gibt, kommt es zu wesentlich mehr Verzögerungen bis zum erfolgreichen Abschluss als bei uns.

In Finnland schaffen es sehr viele junge Menschen nach Verlassen des Bildungswesens nicht, einen Arbeitsplatz zu finden – mehr als doppelt so viele wie in Österreich.

Fußnoten:

[1] Pasi Sahlberg, Real Finnish Lessons – The true story of an education superpower (2015), S. 32

[2] Die Zeit online am 5. September 2013

[3] OECD (Hrsg.), TALIS 2013 Results (2014), S. 296

[4] Lorenz Lassnigg u. a., Das österreichische Modell der Formation von Kompetenzen im Vergleich, in: Statistik Austria (Hrsg.), Schlüsselkompetenzen von Erwachsenen - Vertiefende Analysen der PIAAC-Erhebung 2001/12 (2014), S. 66

 

Mag. Gerhard Riegler ist Vorsitzender der Österreichischen Professorenunion.

 

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