Die Psychologie der Massen

Allzu viele Sachbücher dürfte es nicht geben, die 120 Jahre nach ihrer Ersterscheinung nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt haben. „Psychologie der Massen“, ein Werk des französischen Mediziners und Pioniers auf dem Gebiet der Erforschung der Massenpsychologie, Gustave Le Bon, ist ein derart zeitloses Werk.

Bei dem Bildungsbürger und messerscharfen Analytiker, der unter dem Eindruck der politischen Ereignisse der Jahre 1848 und 1871 stand, ist die Geringschätzung für die Masse schwer zu übersehen. Diesem Umstand und der Tatsache, dass sein Hauptwerk rund 100 Jahre vor dem totalen Triumph der politischen Korrektheit erscheint, verdankt sich die erfrischend unverblümte Art, mit der sich der Autor seinem Thema widmet. Große Bedeutung für die Gefühle, Wünsche und Entscheidungen großer Kollektive misst er etwa – horribile dictu – der Rassenzugehörigkeit zu. Ein aus Sicht unserer Tage geradezu verstörender Aspekt.

„Die Massen haben nur Kraft zur Zerstörung. Ihre Herrschaft bedeutet stets eine Stufe der Auflösung.“ Starker Tobak in unserer Zeit, die jeder Elitenbildung mit Ablehnung begegnet, das Kollektiv heiligt und in der es als unumstößliche Tatsache gilt, dass die (demokratische) Mehrheit immer Recht hat – der „Schwarmintelligenz“ sei Lob und Dank.

„Die Masse nimmt nicht den Geist, sondern nur die Mittelmäßigkeit in sich auf.“ Le Bons These: Ein Kollektiv von Akademikern kommt zu keinen klügeren Entscheidungen als eines von ungebildeten Wasserträgern. In der Mehrzahl der Fälle werden von einer Masse nämlich Entscheidungen getroffen, die kaum ein einzelnes deren Mitglieder billigen würde, hätte es sie als Individuum zu treffen. Als Grund dafür identifiziert der Autor das durch die Namenlosigkeit innerhalb des Kollektivs verloren gehende Verantwortungsgefühl. Das ist exakt die Argumentation, derer sich rezente Demokratiekritiker bedienen. Le Bon hat als Zeitzeuge der Demokratisierung Frankeichs eine der entscheidenden (und unheilbaren) Schwächen der Massendemokratie präzise erkannt…

„Der einzelne ist nicht mehr er selbst (…) er war vielleicht ein gebildetes Individuum, in der Masse ist er ein Treibwesen, also ein Barbar.“ Und so „…hängt alles von der Art des Einflusses ab, unter dem die Masse steht.“ Exakt so ist es. Le Bon beschreibt – am Ende des 19. Jahrhunderts – den kollektiven Irrsinn, der sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in mörderischen Diktaturen und heute im Kult von Klimareligion, Genderwahnsinn und einem autodestruktiven Multikulturalismus ausdrückt.

Das Buch gliedert sich in drei Teile. Der erste davon widmet sich der Beschreibung von Kennzeichen der „Massenseele“. Danach werden „Meinungen und Glaubenslehren der Massen“ beschrieben, um im dritten Teil mit der „Beschreibung der verschiedenen Arten von Massen“ zu enden.

Deprimierend, weil in erschreckender Weise auf den gegenwärtigen Zustand der westlichen Massendemokratien zutreffend, fallen die letzten Seiten aus. Le Bon, der einem zyklischen Geschichtsbild anhängt, beschreibt darin den finalen Zustand einer im Niedergang befindlichen Kultur und die Gründe, die dahin führen. Verlegt sich eine Kultur vom stetigen Vorwärtsschreiten auf die Bewahrung und allenfalls die Verteidigung des Bestehenden, ist damit der Anfang ihres Endes eingeläutet. Die westlichen Demokratien (zumindest jene Europas) sind über diese Phase indes längst hinaus. Sie verteidigen ihre Werte und Besitzstände nicht mehr, sondern arbeiten – womit der Gipfel der Dekadenz ohne Zweifel erreicht ist – bereits aktiv an ihrer eigenen Zerstörung.

Le Bon stellt in seiner Einleitung fest: „In den meisten Fällen zeigt die Handlungsweise der Massen eine außerordentlich niedrige Geistigkeit.“ Ein Blick auf die Realität erweist die Wahrheit dieser Behauptung. Die Massen treffen nahezu immer idiotische Entscheidungen. Sollte dies – angesichts unumschränkter Begehrlichkeiten der verantwortungslosen Wählermehrheit und einer moralfrei handelnden Politnomenklatura – verwundern?

Psychologie der Massen
Gustave Le Bon
Verlag Nikol
203 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-86820-234-2
4,95 Euro

Andreas Tögel, Jahrgang 1957, ist Kaufmann in Wien.

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