Ein ernüchternder Vergleich: Wie viele Moslems, wie viele Christen sind Fundamentalisten?

Während der hitzigen Kontroversen über Einwanderung und Islam zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurden Muslime in den Medien und der öffentlichen Wahrnehmung weithin mit religiösem Fundamentalismus in Verbindung gebracht. Mancher hat gegen diese Assoziation argumentiert, der religiöse Fundamentalismus sei nur unter einer kleinen Minderheit der im Westen lebenden Muslime anzutreffen und sei auch unter Anhängern anderer Religionen zu finden, auch im Christentum. Doch den Behauptungen beider Seiten fehlt eine solide empirische Basis. Über die Verbreitung des religiösen Fundamentalismus unter muslimischen Einwanderern ist wenig bekannt. Es gibt praktisch keine aussagekräftigen Daten, die einen Vergleich mit einheimischen Christen erlauben.

Religiöser Fundamentalismus beschränkt sich eindeutig nicht auf den Islam. Der Begriff geht auf eine protestantische Erneuerungsbewegung in den USA zu An- lang des 20. Jahrhunderts zurück, die die Rückkehr zu den Fundamenten des christlichen Glaubens durch die strikte Befolgung und die wörtliche lnterpretation der Regeln der Bibel propagierte. Viele Untersuchungen zum religiösen Fundamentalismus christlicher Protestanten haben gezeigt, dass dieser stark und durchgängig mit Vorurteilen und Feindseligkeit gegenüber ethnischen und religiösen Fremdgruppen sowie gegen ,,abweichende" Gruppen wie Homosexuelle verbunden ist. Dagegen wissen wir wenig darüber, wie groß der Anteil jener muslimischen Minderheiten ist, die sich in westlichen Ländern an fundamentalistische Interpretationen des Islam halten.

Verschiedene Studien haben gezeigt, dass muslimische Einwanderer sich häufiger als die Mehrheit der Bevölkerung als religiös definieren, sich stärker mit ihrer Religion identifizieren, dass sie religiöse Praktiken wie das Gebet oder den Besuch der Moschee öfter ausüben und religiöse Vorschriften wie ,,Halal"-Speisen oder das Tragen eines Kopftuchs häufiger einhalten. Doch die Religiosität ais solche sagt wenig darüber aus, in welchem Umfang solche religiösen Überzeugungen und Praktiken als Fundamentalismus gelten können und mit Feindseligkeit gegenüber anderen Gruppen einhergehen.

Die SCIlCS-Studie (Six Country Immigrant Integration Comparative Survey) des WZB (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung) zu Einwanderern und Einheimischen in sechs europäischen Ländern – Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Österreich und Schweden – stellt erstmals eine solide empirische Basis zur Beantwortung dieser Fragen bereit. 2008 wurden 9.000 Personen mit türkischem oder marokkanischem Migrationshintergrund und eine einheimische Vergleichsgruppe befragt. Nach der weithin anerkannten Fundamentalismus-Definition von Bob Altemeyer und Bruce Hunsberger lässt sich religiöser Fundamentalismus anhand von drei Schlüsselelementen definieren:

  • Die Gläubigen sollen zu den ewigen und unabänderlichen Regeln, die in der Vergangenheit festgelegt wurden, zurückkehren.
  • Diese Regeln lassen nur eine Interpretation zu und sind für alle Gläubigen bindend.
  • Religiöse Regeln haben Vorrang vor weltlichen Gesetzen.

Diese Aspekte des Fundamentalismus wurden anhand folgender Aussagen gemessen, die Einheimischen, die sich als Christen bezeichneten (das waren 70 Prozent der befragten Einheimischen), und Befragten türkischer und marokkanischer Herkunft, von denen sich 96 Prozent als Muslime bezeichneten, vorgelegt wurden:

  • ,,Christen [Muslime] sollten zu den Wurzeln des Christentums [lsam] zurückkehren."
  • ,,Es gibt nur eine Auslegung der Bibel [des Korans] und alle Christen lMuslime] müssen sich daran halten."
  • ,,Die Regeln der Bibel [des Korans] sind mir wichtiger als die Gesetze [von Deutschland; bzw. des anderen Landes, in dem die Studie durchgeführt wurde]."

Grafik 1 zeigt, dass religiöser Fundamentalismus in den westeuropäischen muslimischen Gemeinschaften kein Randphänomen ist. Fast 50 Prozent stimmen der Aussage zu, dass Muslime zu den Wurzeln des Islam zurückkehren sollten; 75 Prozent meinen, dass nur eine Auslegung des Korans möglich ist, an die sich alle Muslime halten sollten; und 65 Prozent sagen, dass ihnen religiöse Regeln wichtiger sind als die Gesetze des Landes, in dem sie leben. Durchgängig fundamentalistische Überzeugungen mit der Zustimmung zu allen drei Aussagen finden sich bei 44 Prozent der befragten Muslime. Unter sunnitischen Muslimen mit türkischem Hintergrund (45 Prozent Zustimmung zu allen drei Aussagen) sind fundamentalistische Haltungen etwas seltener als unter solchen mit marokka- nischem Hintergrund (50 Prozent). Unter Aleviten, einer türkischen Minder- heitsglaubensrichtung innerhalb des Islam, kommen fundamentalistische Über- zeugungen viel seltener vor (15 Prozent).

Entgegen der Annahme, dass der Fundamentalismus eine Reaktion auf die Ausgrenzung durch das Gastland ist, finden wir den niedrigsten Grad an Fundamentalismus in Deutschland, wo der Islam bisher nicht gleichberechtigt mit christlichen Glaubensrichtungen ais Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt wurde und Muslime auch ansonsten weniger religiöse Rechte genießen als in den anderen fünf Ländern. Doch selbst unter deutschen Muslimen sind fundamentalistische Ansichten weit verbreitet 30 Prozent der Befragten stimmen allen drei Aussagen zu. Vergleiche mit anderen deutschen Studien zeigen bemerkenswert ähnliche Ergebnisse auf.

So stimmten 2007 in der Studie ,Muslime in Deutschland" 47 Prozent der befragten deutschen Muslime der Aussage zu, das Befolgen der Regeln der eigenen Religion sei wichtiger als die Demokratie, genauso viele, wie der Anteil jener in unserer Studie, die meinten, dass die Regeln des Koran wichtiger sind als die deutschen Gesetze. Ein weiterer bemerkenswerter Befund in Grafik 1 ist, dass religiöser Fundamentalismus unter Muslimen sehr viel weiter verbreitet ist als unter einheimischen Christen. Zwischen 13 und 21 Prozent der Christen stimmen den einzelnen Aussagen zu, und weniger als 4 Prozent können als konsistente Fundamentalisten bezeichnet werden, da sie allen drei Aussagen zustimmen.

In Übereinstimmung mit dem bisherigen Wissensstand über den christlichen Fundamentalismus ist die Zustimmung zu diesen Aussagen unter den Anhängern der Hauptströmung des Protestantismus (4 Prozent stimmen allen Aussagen zu) etwas höher als unter Katholiken (3 Prozen0 und am ausgeprägtesten (12 Prozent) unter den Anhängern kleinerer protestantischer Gruppen wie den Siebenten-Tags-Adventisten, den Zeugen Jehovas und den Pfingstkirchlern. Doch selbst unter diesen Gruppen ist die Befürwortung des Fundamentalismus wesentlich geringer als unter sunnitischen Muslimen. Die Ansicht der türkischen Aleviten über die Rolle der Religion gleicht dagegen viel stärker der der einheimischen Christen als der der sunnitischen Muslime.

Da sich die demografischen und sozioökonomischen Profile der muslimischen Einwanderer und der einheimischen Christen stark unterscheiden, und da es aus der Literatur bekannt ist, dass sich marginalisierte Menschen der Unterschicht stärker von fundamentalistischen Bewegungen angezogen fühlen, wäre es natürlich möglich, dass diese Unterschiede auf die soziale Klasse und nicht auf die Religion zuruückzuführen sind. Die Ergebnisse der Regressionsanalyse unter Berücksichtigung von Bildungsniveau, Arbeitsmarktstatus, Alter, Geschlecht und Familienstand zeigen, dass einige dieser Faktoren Variationen beim Fundamentalismus innerhalb der beiden religiösen Gruppen erklären; sie erklären jedoch nicht die Differenz zwischen Muslimen und Christen, ja, sie verringern sie nicht einmal. Ein Grund zur Sorge ist die Tatsache, dass fundamen-talistische Haltungen unter jungen Muslimen ebenso weit verbreitet sind wie unter älteren, während sie bei jungen Christen sehr viel seltener anzutreffen sind als bei älteren Christen.

Die Forschung zum christlichen Fundamentalismus in den Vereinigten Staaten hat eine starke Feindseligkeit gegenüber anderen Gruppen aufgezeigt, die als Bedrohung der religiösen Eigengruppe gesehen werden. In welchem Umfang finden wir diese Verbindung auch im europäischen Kontext? Um diese Frage zu beantworten, verwenden wir drei Aussagen:

  • ,,lch möchte keine Homosexuellen als Freunde haben."
  • ,Juden kann man nicht trauen."
  • ,,Die Muslime wollen die westliche Kultur zerstören." [Für Einheimische]
    • ,,Die westlichen Länder wollen den lslam zerstören." [Für Personen mit türkischem oder marokkanischem Migrationshintergrund]

Grafik 2 zeigt, dass die Feindseligkeit gegenüber Fremdgruppen unter einheimischen Christen keineswegs zu vernachlässigen ist. Immerhin 9 Prozent sind offen antisemitisch und stimmen der Aussage zu, dass man Juden nicht trauen kann. In Deutschland ist dieser Prozentsatz sogar noch höher (11 Prozent). Ähnlich viele lehnen Homosexuelle als Freunde ab (durchschnittlich i3 Prozent in allen Ländern, 10 Prozent in Deutschland). Muslime sind wenig überraschend die Fremdgruppe, die den höchsten Grad an Feindlichkeit hervorruft: 23 Prozent der einheimischen Christen (in Deutschland 17 Prozent) glauben, dass die Muslime die westliche Kultur zerstören wollen.

Nur wenige einheimische Christen sind allen drei Gruppen gegenüber feindselig eingestellt (1,5 Prozent). Wenn wir alle Einheimischen in Betracht ziehen und nicht nur die Christen, ist das Niveau der Fremdgruppenfeindlichkeit etwas geringer (8 Prozent gegen Juden, 10 Prozent gegen Homosexuelle, 21 Prozent gegen Muslime und 1,4 Prozent gegen alle drei).

Diese Zahlen für Einheimische sind schon beunruhigend genug, doch sie werden durch den Grad der Fremdgruppenfeindlichkeit unter europäischen Musiimen weit in den Schatten gestellt. Fast 60 Prozent lehnen Homosexuelle als Freunde ab, und 45 Prozent denken, dass man Juden nicht trauen kann. Während etwa jeder fünfte Einheimische als islamfeindlich gelten kann, ist das Ausmaß der Phobie gegen den Westen – für die es sonderbarerweise kein Wort gibt, man könnte sie ,,Abendlandphobie" nennen – unter Muslirnen viel höher: 45 Prozent glauben, dass der Westen den Islam zerstören will. Diese Resultate stimmen mit dem Ergebnis einer Studie des Pew Research Center aus dem Jahr 2006 überein, wonach etwa die Hälfte der Muslime in Frankreich, Deutschland und Gro8britannien glaubt, dass die Anschläge vom 11. September nicht von Muslimen ausgeübt wurden, sondern vom Westen und/oder von Juden geplant wurden.

Ein gutes Viertel der Muslime zeigt Feindlichkeit gegenüber allen drei Fremdgruppen. Im Gegensatz zu den Ergebnissen zum religiösen Fundamentalismus ist die Fremdgruppenfeindlichkeit unter türkischstämmigen Muslimen (30 Prozent stimmen allen drei Aussagen zu) weiter verbreitet als unter marokkanisch- stämmigen Muslimen (17 Prozent). Unter Aieviten (13 Prozent stimmen allen drei Aussagen zu) ist der Grad der Fremdgruppenfeindlichkeit wesentlich geringer ais unter sunnitischen Muslimen türkischer Herkunft (31 Prozent), die Differenz ist jedoch kleiner ais beim religiösen Fundamentalismus. Ein besorgniserregender Aspekt ist der Fakt, dass die Fremdgruppenfeindlichkeit unter jungen Muslimen nicht wesentlich geringer ist als unter älteren, während unter einheimischen Christen der Unterschied zwischen den Generationen beachtlich ist.

Auch hier müssen wir natürlich sicherstellen, dass die Differenzen zwischen Muslimen und Einheimischen nicht auf die unterschiedliche demografische und sozioökonomische Zusammensetzung dieser Gruppen zurückzuführen ist, denn es ist bekannt, dass Fremdenfeindlichkeit unter sozial benachteiligien Gruppen höher ist. Multivariate Regressionsanalysen zeigen tatsächlich, dass dies der Fall ist, doch die Berücksichtigung sozioökonomischer Variablen reduziert die Gruppenunterschiede kaum. Zudem sind die Gruppendifferenzen viel größer als die sozioökonomischen Unterschiede. So ist der Unterschied in der Fremdgruppenfeindlichkeit zwischen Personen mit niedrigem Bildungsniveau und solchen mit Universitätsabschluss etwa halb so groß wie der Unterschied zwischen Muslimen und einheimischen Christen.

Wenn wir den religiösen Fundamentalismus mitberücksichtigen, erweist dieser sich als das mit Abstand wichtigste Zeichen für Fremdgruppenfeindlichkeit und erklärt die meisten Differenzen in den Niveaus der Fremdgruppenfeindlichkeit zwischen Muslimen und Christen. Auch die größere Fremdgruppenfeindlichkeit unter türkischstaämmigen Sunniten im Vergleich mit den Aieviten erklärt sich fast ausschließlich durch das höhere Niveau des reiigiösen Fundamentalismus unter den Sunniten. Ein weiterer Indikator dafür, dass religiöser Fundamentalismus der entscheidende Faktor für die Fremdgruppenfeindlichkeit ist, ist der Fakt, dass er auch der wichtigste Prädikator in separaten Analysen der Christen und der Muslime ist. Anders gesagt, der religiöse Fundamentalismus erklärt nicht nur, warum muslimische Einwanderer Fremdgruppen gegenüber generell feindlicher eingestellt sind als einheimische Christen, sondern auch, warum einige Christen und einige Muslime fremdenfeindlicher sind als andere.

Diese Befunde widersprechen ganz klar der oft gehörten Behauptung, dass islamischer religiöser Fundamentalismus in Westeuropa ein Randphänomen ist oder sein Ausmaß sich nicht vom Fundamentalismus unter Christen unterscheidet. Beide Behauptungen sind offensichtlich falsch, wenn fast die Hälfte der europäischen Muslime den Aussagen zustimmt, dass die Muslime zu den Wurzeln des Islam zurückkehren sollten, dass es nur eine einzige Auslegung des Koran gibt und dass die im Koran festgeschriebenen Regeln wichtiger sind als säkulare Gesetze. Von den einheimischen Christen kann nicht einmal jeder 25. in diesem Sinne als fundamentalistisch bezeichnet werden. Darüber hinaus ist religiöser Fundamentalismus keine unschuldige Form strenger Religiosität, wie die enge Beziehung zur Feindlichkeit gegenüber Fremdgruppen – sowohl bei Christen als auch bei Muslimen – zeigt.

Das Ausma8 des islamischen religiösen Fundamentalismus wie auch seine Korrelate – Homophobie, Antisemitismus und ,Abendlandphobie" – sollten bei politischen Entscheidungsträgern ebenso wie bei den Führern muslimischer Gemeinschaften ernsthafter Grund zur Besorgnis sein. Natürlich sollte religiöser Fundamentaiismus nicht mit der Bereitschaft, religiös motivierte Gewalt zu unterstützen oder sich gar daran zu beteiligen, gleichgesetzt werden. Doch angesichts seiner starken Beziehung zur Fremdgruppenfeindlichkeit ist es sehr wahrscheinlich, dass er einen Nährboden für die Radikalisierung bietet. Gleichwohl sollte man auch nicht vergessen, dass die Muslime in Westeuropa nur eine relativ kleine Bevölkerungsminderheit sind. Relativ gesehen sind die Niveaus des Fundamentalismus und der Fremdgruppenfeindlichkeit unter Muslimen zwar viel höher, in absoluten Zahlen gibt es aber mindestens genauso viele christliche wie muslimische Fundamentalisten in Westeuropa, und die große Mehrheit der Homophobiker und Antisemiten sind nach wie vor Einheimische. Wie ein sowohl von den Muslimen als auch von Christen respektierter religiöser Führer einst sagte: ,,Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein."

Ruud Koopmans ist Direktor der Abteilung Migration, Integration, Transnationalisierung und Gastprofessor für Politische Wissenschaften an der Universität Amsterdam. Zum 1. November 2013 hat er außerdem einen Ruf auf eine S-Professur für ,,Soziologie und Migrationsforschung" der Philosophischen FakuItät III der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen.

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