Ist Südtirol das Waisenkind der europäischen Wertegemeinschaft?

Durch die Napoleonischen Kriege Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die Ideen der Französischen Revolution nach ganz Europa getragen. Hierfür waren besonders die intellektuellen Kreise des Bürgertums empfänglich. Die Auswirkungen waren in den Ländern höchst unterschiedlich, denn mit der militärischen Niederlage Napoleons wurde eine Phase der Restauration des Feudalismus und des Absolutismus eingeleitet.

Italien war zu dieser Zeit in viele Fürstentümer zersplittert. Um 1815 formierte sich eine Bewegung zur Einheit und Freiheit dieses Landes, die auch „Risorgimento“ genannt wird. Ein bekannter Vertreter war Giuseppe Mazzini. Nach mehreren Kriegen wurde die Einheit Italiens errungen: Am 17.03. 1861 wurde das „Königreich von Italien“ ausgerufen. Südtirol (einschließlich Welschtirol) und Venetien gehörten nicht dazu.

Mit der Gründung der Organisation „Italia Irredenta“ („Unerlöstes Italien“) durch Matteo Renato Imbriani-Poerio im Jahre 1877 wurde die Risorgimento-Bewegung durch den Irredentismus abgelöst. Dieser verlangte die Einverleibung von Welschtirol, Triest, Friaul und Istrien, nicht aber die des heutigen Südtirols. Höhepunkt dieser äußerst aggressiven Bewegung waren die Gebietsforderungen an die Schweiz in Bezug auf das Tessin und Graubünden in den 20-er und 30-er Jahren des 20. Jahrhunderts.

Ettore Tolomei, der von vielen als „Totengräber Südtirols“ bezeichnet wird, ging über die Ziele des Irredentismus hinaus und propagierte, dass auch Südtirol italienisch sei. Seit 1901 begann er fieberhaft, alle Namen von Orten, Bergen, Tälern und Flüssen in Südtirol ins Italienische zu übersetzen. Er bestieg 1904 den Klockerkarkopf und nannte ihn „Vetta d´Italiá“ („Spitze Italiens“), nur um der Welt vorzugaukeln, Südtirol sei schon immer italienisch gewesen. Die Tatsache, dass dort 1910 nur 7.339 Italiener (2,9 Prozent der Bevölkerung) lebten, wurde geflissentlich verschwiegen.

1915 fiel Italien seinen Bündnispartnern – dem Deutschen Kaiserreich und Österreich-Ungarn – militärisch in den Rücken. Als Lohn für den Vertragsbruch verlangte Italien von den Siegermächten das südliche Tirol als Kriegsbeute. Dabei kam den italienischen Militärs die Vorarbeit von Ettore Tolomei sehr gelegen. Der Leiter der italienischen Delegation, Vittorio Emmanuele Orlando, präsentierte den Siegermächten eine manipulierte Landkarte, wo sämtliche Orts- und Flurnamen Südtirols nur auf Italienisch angegeben wurden. Damit sollte die „Italianítá“ Südtirols bewiesen werden.

In Hinblick auf den Kriegsgegner Österreich-Ungarn, der zuweilen als „Vielvölkergefängnis“ bezeichnet wurde, prägte der damalige US-Präsident Woodrow Wilson den Begriff „Selbstbestimmungsrecht der Völker“. Wilson wollte eine „Berichtigung der Grenzen Italiens nach den genau erkennbaren Abgrenzungen der Volksangehörigkeit“ (14-Punkte-Programm). England und Frankreich waren in ihrem kolonialen Denken so befangen, dass sie nicht auf die Idee kamen, dass auch ihre Kolonien, geschweige denn Tirol, gemeint sein könnten. Hinzu kam der Wille dieser beiden Alliierten, ihren ehemaligen Kriegsgegnern maximal zu schaden. Ein gemäßigterer Umgang mit den Unterlegenen hätte vielleicht mit dazu beigetragen, einen zweiten Weltkrieg zu verhindern.

Südtirol wurde Opfer von Täuschung und kolonialem Denken. Als Wilson von diesem Täuschungsmanöver erfuhr, war der verhängnisvolle Vertrag bereits unterschrieben. Der Präsident war sehr betrübt, dass sich der Geburtsort seines Helden Andreas Hofer dadurch plötzlich in einem fremden Land befand. Hofer war die einzige Persönlichkeit, die sich offen und kompromisslos gegen die Fremdherrschaft durch Napoleon gestellt hatte. Von Wilson ist der sich selbst tröstende Ausspruch verbrieft: „Die deutschen Tiroler sind ein herzhaftes Volk, und ich hege keinen Zweifel daran, dass sie selbst imstande sein werden, das zu ändern.“

Durch den Vertrag von Saint-Germain fiel das südliche Tirol an Italien. Mit dem Erstarken des italienischen Faschismus im Jahre 1921 begann eine schwere Zeit für die Südtiroler. Erinnert sei an den „Bozner Blutsonntag“ und an den „Marsch auf Bozen“. Am 15.07.1923 im Stadttheater von Bozen präsentierte Ettore Tolomei sein 32-Punkte Programm und kündigte an, die deutsche Kultur und Sprache mit Stumpf und Stiel auszurotten. Es wurden etliche Dekrete zur Unterdrückung der Südtiroler erlassen, die Kultur- und Sozialkassen ausgeplündert und alle Schutzhütten konfisziert. Zudem wurden tausende Italiener in Südtirol angesiedelt.

Um die Identität der Südtiroler zu zerstören und die Daseinsberechtigung der Italiener zu unterstreichen, wurden Denkmäler aus der k. u. k. -Zeit zerstört und faschistische, geschichtsfälschende, Bauten errichtet. Die bekanntesten sind das Siegesdenkmal, das Haus des Faschismus und die Beinhäuser in Gossensaß, Mals und Innichen. Letztere sollen die Nachwelt glauben lassen, dass italienische Truppen im 1. Weltkrieg am Alpenkamm Südtirol vor den Aggressoren aus dem Norden heldenhaft verteidigt haben. In Wirklichkeit verlief die Front weit südlich der Grenze des jetzigen Südtirols.

1939 schlossen Mussolini und Hitler ein Abkommen zur Umsiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung nach Deutschland ab. Mit der „Option“ wollte Rom den Südtirolern endgültig den Garaus machen. Durch den Ausbruch des 2. Weltkrieges kam dieses Vorhaben ins Stocken. Hitler opferte Südtirol zwecks eines Militärbündnisses mit Italien.

Die Situation nach 1945

Nach dem 2. Weltkrieg wurden die Südtiroler ein zweites Mal bestraft, nur weil Italien die Seite gewechselt, und die Österreicher – bedingt durch Hitlers erzwungenen Anschluss an Deutschland – auf der „falschen“ Seite gekämpft hatten. Der Staat Österreich existierte seit 1938 nicht mehr. Somit fehlte der Interessensvertreter Südtirols bei den Nachkriegsverhandlungen. Resultierend aus der brutalen Unterdrückung der Südtiroler durch die Italiener wurde Südtirol Italien, dieses Mal unter der Bedingung der Gewährung einer Autonomie, zugeschlagen. Italien unterlief den Pariser Vertrag in der Art und Weise, dass es die Autonomie auch auf die Region Trentino ausweitete. In der neu geschaffenen Provinz Trentino-Südtirol befanden sich die Südtiroler plötzlich in der Minderheit. Die Regionalregierung beschloss Gesetze über ihre Köpfe hinweg, was zur Verbitterung und zum Unmut führte.

Während sich das nördliche Westeuropa in der Nachkriegszeit eines wirtschaftlichen Aufschwungs und der gewonnenen Freiheit erfreute, fiel Italien, insbesondere Südtirol, in alte Zustände zurück. Dank der Generalamnestie für alle Faschisten und ihre Kriegsverbrechen durch den Justizminister (und späteren KP-Vorsitzenden) Palmiro Togliatti im Jahre 1946 kam es zu einer Renaissance des italienischen Faschismus. 1957 brachte man in Bozen am Haus des Faschismus die letzten Mussolini-Reliefs an.

Rom dachte gar nicht daran, den Südtirolern die Rechte zu geben, zu denen es sich laut Pariser Vertrag verpflichtet hatte. Es setzte seine Politik der Assimilation fort. Angesichts dieser Ausweglosigkeit kam es 1957 auf Schloss Sigmundskron zu einer Demonstration von 35.000 Südtirolern. Sepp Kerschbaumer gründete 1959 den Befreiungsausschuss Südtirol (BAS) und organisierte Bombenanschläge. Die Meinungen über die Aktivisten der BAS mögen auseinander gehen. Ihr Verdienst, die Weltöffentlichkeit auf die ungelösten Probleme in Südtirol aufmerksam gemacht zu haben, ist aber unbestritten. Einige Aktivisten kamen durch Folterung um, andere leben noch heute im Exil.

In der Südtiroler Volkspartei (SVP) haben Persönlichkeiten wie Alfons Benedikter, Hans Dietl und Dr. Egmont Jenny Silvius Magnago gedrängt, eine Autonomieregelung zu erwirken, die völkerrechtlich verbindlich ist. Je länger die Bombenattentate andauerten, umso mehr kam es zum Verschleiß bei der SVP und bei den Unterhändlern Österreichs und umso mehr konnte sich Italien als Opfer darstellen. Nur so ist der überhastete Abschluss des Südtirol-Paketes (Zweites Autonomiestatut, das ab 1972 in Kraft trat) zu verstehen. Aus Angst, die Südtiroler könnten sich ein Beispiel an der Wiedervereinigung Deutschlands nehmen, erfüllte Italien nach 20 Jahre langer Verzögerung im Jahre 1992 (fast) alle Punkte dieses Vertrages. Österreich gab darauf vor der UNO eine Streitbeilegungserklärung ab, was aber nicht die Aufgabe seiner Schutzmachtfunktion bedeutet.

Jetzige politische Lage

Die erkämpfte Autonomie brachte Südtirol Wohlstand und relativen Frieden zwischen den Volksgruppen. Die SVP gab sich der Illusion hin, ohne Eingriffe Roms in die Autonomie leben zu können. Spätestens 2006 platzte dieser Traum wie eine Seifenblase. Das nationalistisch-faschistische Gedankengut ist in weiten Teilen der italienischen Bevölkerung noch tief verankert. Daraus resultiert ein Unverständnis für ethnische Minderheiten. So sagte am 05.02. 2013 Michaela Biancofiore, Parteifreundin von Berlusconi, der italienische Faschismus hätte den Südtirolern viel Gutes – wie etwa sanitäre Anlagen – gebracht… Als Landeshauptmann Durnwalder ankündigte, nicht zur 150-Jahresfeier der Staatsbildung Italiens zu erscheinen, gab es einen Sturm der Empörung. Die Südtiroler haben Italiener zu sein, basta!

Staatspräsident Napolitano schrieb an Durnwalder einen Brief, dessen Inhalt streng geheim gehalten wird. Per Pressemitteilung ließ er am 11.02.2011 wissen, dass er die Existenz einer „österreichischen Minderheit“ bezweifelt und „dass auch die Bevölkerung deutscher Sprache italienisch ist und sich mit großer Mehrheit so fühlt“. (Ein Jahr zuvor gab es eine Befragung, wo 95 Prozent der deutschen Südtiroler angaben, sich nicht mit Italien zu identifizieren.) Ist Napolitano wirklich so ahnungslos oder ignoriert er eine unbequeme Wahrheit?

Im Frühjahr 2013 trafen sich Napolitano und der deutsche Bundespräsident Gauck drei Mal. Dabei wurde auf der Pressekonferenz betont, dass Deutschland und Italien in einer „Wertegemeinschaft“ leben. Leider wurde seitens der Korrespondenten dieser Begriff nicht intensiv hinterfragt. Denn dann würden sich zwei grundverschiedene Auffassungen herauskristallisieren: Napolitano ist für einen Nationalstaat, wo Minderheiten an den Rand gedrängt werden, und Gauck ist ein Mensch der Freiheit. Allerdings lässt sich Napolitano nicht in die Karten schauen. So unterschreibt er Gesetze, die die Autonomie untergraben und ruft öffentlich zur Respektierung der Autonomie auf…

Francesco Palermo, Politiker des linken Partito Democratico, kündigte im Februar 2013 an, „ethnischen Ballast“ aus der Autonomie Südtirols zu entfernen. Jedoch aufgepasst: Der Proporz ist eine der friedensstiftenden und wichtigsten Grundsäulen der Südtiroler Autonomie!

Die Italiener waren in der Vergangenheit oft genug unsichere Kantonisten, die Verträge nur solange einhielten, solange sie für sie vorteilhaft waren. Daher muss man sich schon die berechtigte Frage stellen: Was ist das Wort eines italienischen Politikers wert?

Bedenklich sind auch die Aussagen von Ministerpräsident Monti am 25.10.2012 gegenüber der österreichischen Tageszeitung „Kurier“. Dort stellte er die Schutzmachtfunktion Österreichs in Frage und bezeichnete die Auseinandersetzungen um die Autonomie als „inneritalienische Angelegenheit“. Damit sagte er ganz offen, was italienische Spitzenpolitiker schon immer gedacht haben. Erinnert sei an eine Bemerkung des „Spiegel“, Ausgabe 46 von 1966, „Deutsch san mir“: „Sie stehen heute da, wo sie vor zwanzig Jahren auch standen, angewiesen auf den guten Willen der Italiener, die jede Konzession nicht als Pflicht aus dem Pariser Abkommen von 1946 ansehen, sondern als freiwilliges innerstaatliches Geschenk.“ Diese Aussage ist auch deshalb so brisant, weil bereits Ettore Tolomei in seinem Programm zur Assimilierung der Deutsch-Südtiroler am 15.07. 1923 gefordert hatte, dass das Ausland sich nicht in das Südtirol-Problem einzumischen habe.

Zeit zu handeln!

Wenn es nach den italienischen Politikern ginge, dann soll Südtirol zu einer ganz normalen, recht- und schutzlosen Provinz degradiert werden und nur der Name „Autonome Provinz Südtirol“ übrig bleiben. Die Autonomie Südtirols soll zu einer Worthülse verkommen und das Pariser Abkommen unterlaufen werden. Italien hat bis heute nicht alle Punkte seiner sich daraus ergebenen Verpflichtungen erfüllt (z. B. bloß Duldung deutscher Ortsnamen, einseitige Geschichtsdarstellung in Südtiroler Schulen, Diskriminierung von Deutsch-Südtiroler Fußballspielern durch Schiedsrichter).

Unter dem Vorwand der EU-Sparvorgaben hatte Mario Monti etliche Notstandsgesetze erlassen, wie zum Beispiel das „Decreto Salva Italia“ („Dekret zur Rettung Italiens“) vom 6. Dezember 2011, womit reihenweise Autonomie-Gesetze unterschiedlichen Ranges ausgehebelt werden. Gegenüber dem „Kurier“ sagte er süffisant: „Die Provinz hat im Rahmen der italienischen Verfassung alle Möglichkeiten, um ihre Positionen durchzusetzen.“ In der Zwischenzeit werden unumkehrbare Tatsachen geschaffen und die Italienisierung vorangetrieben.

Seit der Annexion Südtirols durch Italien wurden die Werte der Französischen Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Völker in unterschiedlicher Intensität vergewaltigt. Die Südtiroler werden ungefragt und gegen ihren Willen im italienischen Staatenverband gehalten. Die europäischen Staaten haben auf dem Altar der „guten wirtschaftlichen Beziehungen zu Italien“ die Werte geopfert, die sie eigentlich alle verbinden sollten.

Der Ist-Zustand Südtirols ist nicht gottgegeben. Erfreulicherweise hat in Südtirol die Diskussion zum Thema „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ derart an Intensität zugenommen, dass den Spitzenpolitikern der SVP Angst und Bange wird. Die von dem Südtiroler Schützenbund organisierte Veranstaltung „Jetzt! Für mehr Freiheit und Unabhängigkeit!“ am letzten Wochenende hat der Welt die Aufbruchsstimmung der Südtiroler gezeigt.

Die Partei Südtiroler Freiheit gab der Universität Innsbruck den Auftrag, ein Gutachten betreffs des Selbstbestimmungsrechtes Südtirols zu erstellen. Die Arbeit von Prof. Hilpold brachte zwar nicht den erhofften Freifahrtschein für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes, sie ist aber auch nicht als abschlägiger Bescheid zu verstehen, wie ein paar SVP-Funktionäre frohlocken. Diese haben offenbar das Gutachten nicht bis zum Ende durchgelesen. Jeder Fall hat seine Spezifität. Deshalb gibt es keinen Automatismus in puncto Anerkennung. Wichtig ist, dass ein Volk, welches sich abspalten will, möglichst mit einer Stimme spricht. „Aus einer Illusion kann damit Realität werden.“ (Abschnitt 5: Externe Selbstbestimmung: Illusion oder Wirklichkeit?)

Es bleibt zu hoffen, dass möglichst viele Südtiroler den Ernst der Lage begreifen und an der von der Südtiroler Freiheit organisierten Befragung zur Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes im Herbst 2013 teilnehmen. Durch ein eindeutiges Votum der Südtiroler zum „Los von Rom!“ und im Windschatten der Freiheitsbewegungen in Schottland und in Katalonien kann Europa und somit auch Italien zu einem Umdenken bezüglich des Selbstbestimmungsrechts der Völker gezwungen werden.

Der Autor ist Deutscher, EDV-Spezialist und auf Grund der Zugehörigkeit seines Vaters zur bedrohten sorbischen Volksgruppe und als ehemaliger Mitkämpfer der DDR-Bürgerrechtsbewegung in Sachen Minderheitenschutz besonders engagiert.

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