Vom System der Schule zur Person des Schülers

Mehr noch als das Bildungswesen selbst gehört die derzeit in Österreich im Gang befindliche so genannte „Bildungsreform“ reformiert. Statt sich dem Ziel einer besseren gemeinsamen Zukunft für unsere junge Generation zu widmen, reißt sie völlig unnötigerweise gesellschaftliche Gräben auf. Die durch das hysterisch beworbene und kläglich gefloppte „Bildungs“-Volksbegehren angeheizte öffentliche Diskussion über die Zukunft der österreichischen Schule bietet dem unvoreingenommenen Beobachter das peinliche Schauspiel eines Prestigekampfes unterschiedlicher Ideologien, der sich fast ausschließlich um Fragen der Schulorganisation, also des Systems, dreht und die betroffenen Hauptpersonen, die einzelnen Schüler in ihrer Eigenschaft als Menschen, völlig ausblendet. Es scheint nur noch um den Sieg im Wettstreit erstarrter Positionen zu gehen.

Dass jede Organisationsform gute und weniger befriedigende Ergebnisse hervorbringen kann – und dies auch nachweislich tut – wird in diesem Krieg der Killerargumente geflissentlich übersehen. Zu sehr ist man mit dem Aufbau gegenseitiger Feindbilder („Betonierer“, „Nivellierer“) beschäftigt. Sinnvoll wäre es hingegen, professionelle, das heißt sachliche Ursachenforschung zu betreiben: Danach zu fragen, welche Rahmenbedingungen für die unterschiedliche Qualität vorliegender Ergebnisse verantwortlich sind; und sich dabei nicht auf ideologische Positionen („Gleichheit“ vs. „Freiheit“), sondern auf konkrete, empirisch nachgewiesene Fakten zu beziehen.

Aber selbst eine solche Vorgangsweise (von der man als gelernter Österreicher nur träumen kann) garantiert noch nicht automatisch die geforderte professionelle Sachlichkeit. Denn es  kommt in hohem Maße darauf an, welche Auswahl aus dem vorliegenden Datenmaterial getroffen und wie dieses eingesetzt wird.

In der aktuellen Bildungsdebatte hat die lauteste und einflussreichste Clique, die in Österreich das größte mediale Echo vorfindet – jene der selbsternannten, sogenannten „Bildungsexperten“, von der zuständigen Ministerin über Landeshauptleute bis hin zu millionenschweren Großindustriellen und pensionierten Karriere-Juristen aus Landesschulräten – ihre diesbezügliche Entscheidung selbstherrlich und unbeirrt durch „lästige Einmischungsversuche“ der Profis längst getroffen.

Zwar gibt es ausreichend authentische Forschungsergebnisse, die klar und unwiderlegbar in eine Richtung weisen: Eine Richtung allerdings, die dieser Gruppe so ganz und gar nicht ins Konzept passt. So haben etwa empirische Studien in unserem Nachbarland Deutschland (wo echte Vergleichbarkeit gegeben ist, weil innerhalb eines Staates, also bei identischen Qualitätskriterien, in den einzelnen Ländern unterschiedliche Systeme zur Anwendung gelangen) ein geradezu dramatisches Süd-Nord-Gefälle offenbart: Demnach weisen 14-jährige Absolventen einer Berliner Gesamtschule gegenüber gleichaltrigen Gymnasiasten aus Bayern einen Bildungsrückstand von bis zu zwei Jahren auf.

Überschätzung der PISA-Studie

Aber hierzulande beruft man sich lieber auf eine von einer Wirtschaftsorganisation (der OECD) initiierte (und dementsprechend einseitig ausgerichtete) statistische Erhebung, die in einer „Momentaufnahme“ (zitiert nach Univ. Prof. Dr. Stefan Hopmann, Institut für Bildungswissenschaften der Universität Wien) reproduzierbares Faktenwissen abprüft und die dahinter stehenden Menschen und deren persönlichen und situativen Hintergrund aus jeglicher Überlegung ausblendet. Während selbstbewusstere Länder wie die USA oder Großbritannien die PISA-Studie zu Recht ignorieren bzw. aus allfälligen weiterführenden pädagogischen Überlegungen ausklammern, bleibt es unserem Land vorbehalten, aus unpersönlichem statistischem Zahlenmaterial, das jeglichem Zusammenhang entrissen ist, Konsequenzen für ein für alle verbindliches Organisationssystem ziehen zu wollen.

Als Aufhänger – und gleichzeitig als Rechtfertigung für das Krankjammern eines Systems, das immerhin europaweit die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit produziert und mit seiner breit gefächerten Differenziertheit derzeit als das für alle verbindliche nachzuahmende Modell propagiert wird – dient den oben genannten Bildungsideologen das sich aus der zitierten „entpersonalisierten“ Momentaufnahme ergebende – angeblich so negative – Leistungsbild österreichischer Jugendlicher. Dass messbare schulische Leistungen (also der reine Output, unter Ausblendung aller Rahmenbedingungen) hierzulande nicht umhin können, tendenziell zurückbleiben hinter Ländern wie Finnland (mit seiner Migrantenquote von bescheidenen zwei bis drei Prozent) oder Singapur (mit seinen unmenschlichen Lebensbedingungen für Jugendliche, die bis 22 Uhr die allgegenwärtigen Nachhilfeinstitute bevölkern, und den daraus resultierenden schockierenden Kosten, die Eltern für die Ausbildung ihrer Kinder aufbringen müssen), kann weder überraschen, noch lässt es irgend welche Rückschlüsse auf die pädagogische Qualität unseres Schulwesens zu.

Wenn man wirklich (obwohl mit wissenschaftlicher Seriosität kaum vereinbar) allein vom gemessenen Output ausgehen wollte, böte sich da schon eher ein Vergleich zwischen den beiden Nachbarländern unseres jüngsten „Bildungsexperten“, Herrn Platter, an: Südtirol und Bayern sind kulturell verwandt und erfreuen sich beide einer florierenden Wirtschaft – sind also gut vergleichbar. Allein hinsichtlich der Migrantenquote ist Südtirol gegenüber Bayern klar im Vorteil. Dass trotzdem die (zwar wenig aussagekräftige, aber so inbrünstig zitierte) PISA-Studie für Bayern mit seinem differenzierten Schulsystem deutlich bessere Werte ausweist als für das Gesamtschulland Südtirol, sollte eigentlich einem Landeshauptmann zu denken geben (so er dazu fähig und willens ist). Außer er ist bereit,  um des Wohlwollens der potenziellen Geldgeberin für allfällige kulturelle Prestigeprojekte willen die Zukunft der Jugend des von ihm regierten Landes aufs Spiel zu setzen.

Verzerrtes Bild durch Halbwahrheiten

Aber mit Halbwahrheiten (wie z.B. den vermeintlich oder auch tatsächlich so enttäuschenden österreichischen PISA-Ergebnissen oder den angeblich so großartigen Ergebnissen Südtirols) lässt sich in einer durch einseitiges mediales Trommelfeuer betäubten Öffentlichkeit trefflich argumentieren. Sie haben den Vorteil, scheinbar unwiderlegbar zu sein, weil sie ja zur Hälfte tatsächlich nachweisbare Wahrheiten sind. Um die erwünschten Schlussfolgerungen als scheinbar jedem Zweifel entrückt darzustellen, braucht man nicht einmal Daten zu fälschen; es genügt völlig, die nicht ins Bild passende Hälfte der real ausgewiesenen Daten (wie z.B. die Jugendarbeitslosigkeitsstatistik oder die Selbstmordrate unter Jugendlichen im hochgejubelten Finnland, oder die weit über der österreichischen liegende Durchfallrate in Südtirol) einfach auszublenden.

Ein anderes aktuelles Beispiel dafür, wie man mit Halbwahrheiten in einer entweder nicht hinlänglich interessierten oder nicht hinlänglich informierten Öffentlichkeit wunderbar punkten kann, ist die gebetsmühlenartig wiederholte Klage über die niedrige Akademikerquote in den deutschsprachigen Ländern, mit Österreich als larmoyant beklagtem Schlusslicht. Wenn man sich einfach nur den Hinweis darauf erspart, dass eben diese Länder die eindrucksvollsten Wirtschaftsdaten und niedrigsten Arbeitslosenraten aufweisen und dass ein hoher Prozentsatz der Akademiker in den ob ihrer so vorbildlichen Quoten bejubelten Länder wie Spanien oder Italien sich auf (wenig aussichtsreicher) Jobsuche befinden, ist man bereits auf halbem Weg, die Öffentlichkeit davon überzeugt zu haben, dass der Zugang zum Hochschulstudium möglichst allen ermöglicht werden muss (was leider nur durch Einebnung der dorthin führenden Wege erreichbar ist – aber das kann man ja wiederum verschweigen).

Wenn wir (publizistisch so beneidenswert gut verwertbare) heilige Kühe wie Akademikerquoten oder PISA-Werte entmystifizieren wollen und uns der Mühe zu unterziehen bereit sind, uns ernsthaft mit der Qualität und dem Wert echter „Bildung“ auseinanderzusetzen, wird es nötig sein, zu einer konsensuellen Zieldefinition dessen zu finden, welche Leistung das System Schule für die Gesellschaft erbringen und in welche Richtung sich demzufolge die „schulische Leistung“ beim einzelnen Schüler entwickeln soll. Denn Leistungsverständnisse schlagen sich unmittelbar auf allen Ebenen der pädagogischen Praxis nieder: An der „Front“ (in der Schule) begründen sie letztlich die Art des Unterrichts, und den Entscheidungsträgern und deren Einflüstern dienen sie als Argumentationshilfe für eine (leider bei uns meist ideologisch motivierte) „Schulreform“.

Bildung und Ausbildung

Dabei  wäre es wichtig, sich bewusst zu machen, dass „Leistung“ nicht per se ein positiver Begriff sein muss. Man kann auch Sinnloses „leisten“ (man denke etwa an den Stratosphärensprung eines gewissen Herrn Baumgartner), oder ethisch Fragwürdiges (z.B. die Anhäufung stattlicher Millionenvermögen durch zwei ehemalige österreichische Finanzminister). Zu etwas eindeutig Positivem wird Leistung erst durch eine Orientierung auf Werte hin. Freilich sind „Werte“ für manche (Linke) suspekt, weil sie unter Umständen Ideologien im Wege stehen können.

Aber selbst ethisch einwandfreie und ideologisch unverdächtige Werte lassen sich unter verschiedenen Blickwinkeln betrachten. So ist es etwa eine durchaus knifflige und keinesfalls leichtfertig zu beantwortende Frage, ob es (aus schulischer Sicht) schon ein hinreichender Wert ist, durch die Vermittlung von Fachkompetenzen „funktionierende Instrumente“ zum Nutzen der Gesellschaft auszubilden, oder ob man von einem „Wert“ erst dann sprechen kann, wenn als Steigerung zur Fachkompetenz die „personale“ Kompetenz hinzukommt, das Gelernte mit sich selbst in Beziehung zu setzen, für sich zu deuten, zu be-Wert-en, in den eigenen Lebenskontext einzuordnen und für eine Sinn- und Wert-volle Gestaltung des eigenen Lebens anzuwenden – eben das, was man unter „Bildung“ versteht.

Im Gegensatz zu bloßer „Ausbildung“ kommt diese nämlich in Form von „Humankompetenz“ (soziale + reflektive + ethische Kompetenz) zunächst unmittelbar dem betroffenen Menschen selbst zugute (die Fachliteratur spricht hier von „lebensgestaltendem Lernen“). In weiterer Folge profitiert davon aber auch mittelbar die Gesellschaft, für die „Gestalter“ durch ihr „aktives Mitdenken, kreatives Querdenken und ethisches Vordenken“ (zitiert nach Univ. Prof. Dr. Gerlinde Mautner, WU Wien) letztlich wertvollere Dienste leisten als „brave“ Vollzugsorgane.

Natürlich kann kein Zweifel daran bestehen, dass eine gute Ausbildung für das Funktionieren des Gemeinwesens wichtig ist. Sie vermittelt dem Einzelnen Kompetenzen, mit denen er der Gesellschaft nützliche Dienste erweisen, und dabei auch durchaus selbst ein erfüllter, glücklicher Mensch werden kann. Es ist einfach ein Faktum, dass Ausbildung und Bildung in der Gesellschaft gleichermaßen benötigt werden. Aber nicht für jeden ist beides gleichermaßen erreichbar – oder auch nur erstrebenswert. Der Mensch beginnt nicht erst beim Maturanten oder gar beim Akademiker (siehe die Zahl an arbeitslosen Akademikern in vielen Gesamtschulländern). Aber jeder sollte die Freiheit der Wahl haben, auf welchem der beiden Wege er seine Selbstverwirklichung und Erfüllung suchen will. Nur ein duales System mit gleich wichtigen, gleich wertgeschätzten, aber getrennten Institutionen, die sich jeweils auf eine der beiden Aufgaben bestmöglich konzentrieren, kann dieser Forderung gerecht werden.

Ungleiches ungleich behandeln

Im Konflikt zwischen den Werten der Freiheit und der Gleichheit muss allein schon deshalb der Freiheit der Vorrang eingeräumt werden, weil es zwar „gleiche Freiheit“ für alle geben kann (und soll), aber niemals „frei(willig)e  Gleichheit“. Wenn der Modebegriff der „Inklusion“ von den Gleichheitsaposteln als „das Recht aller auf gleiche Bildung“ interpretiert wird, so kann er, ideologiefrei betrachtet, nur als das „gleiche Recht aller auf die jeweils optimale (d.h. interessens- und begabungsadäquate) und daher frei wählbare Bildung“ verstanden werden. Denn durch die Gleichbehandlung Ungleicher werden bestehende Disparitäten zusätzlich verstärkt.

Eine echte Bildungsreform, die den Namen auch tatsächlich verdient, richtet den Blick nicht auf ideologische Positionen und Strukturen, sondern auf die Menschen, um die es bei jeder Schulreform vordergründig nur gehen kann: die Schüler. Wichtiger als die beim System ansetzende Fragestellung „Was kann Schule alles anbieten, um die (messbare) Leistung (das Produkt, den Output) der Schüler zu maximieren?“ ist die am Menschen orientierte, pädagogische Frage „Wie müssen es die Lernenden erleben, damit sie einen persönlichen ‚Mehr-Wert’ daraus lukrieren?“

Wenn sich eines Tages zusätzlich zu den praktizierenden Pädagogen auch die Entscheidungsträger zu einem solchen „Blick auf die Menschen“ durchringen sollten, dann werden sie sich dem Phänomen der Vielfalt nicht entziehen können. Denn Menschen sind nun einmal von einer unendlichen Vielfalt. Diese von der Natur vorgegebene – und damit unbestreitbare – Unterschiedlichkeit sollte nicht als etwas Negatives angesehen, sondern als etwas erkannt werden, das unser Leben bereichert, gewissermaßen als die „Sonnenseite“ der Heterogenität – sofern vernünftig damit umgegangen wird.

Ein vernünftiger Umgang etwa mit der Vielfalt an Interessen, Lernstilen, Motivations- und Attributionsmustern sowie Persönlichkeitsmerkmalen wie Arbeitsverhalten, Frustrationstoleranz, Ehrgeiz etc., aber auch mit der großen Bandbreite der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit individueller Lernender, manifestiert sich im altbekannten Prinzip der Differenzierung. Wenn diese heute unter dem Etikett der „Binnendifferenzierung“ als „innovative Erfindung“ der Neuen Mittelschule oder gar als Spezifikum der Gesamtschule gehandelt wird, so entlarvt das die Ahnungslosigkeit unserer sogenannten „Bildungsexperten“ (die alle die „Qualifikation“ teilen, nie unterrichtend in einer Schulklasse gestanden zu sein).

Denn bestmögliche Binnendifferenzierung in jeder Lernsituation wird seit jeher jeder Lehrperson bereits in der Grundausbildung als Unterrichtsprinzip eingeimpft – dazu bedurfte es nicht erst der Neuen Mittelschule; aber eben die best-mögliche, mit der Betonung auf „möglich“. Ohne unterstützende strukturelle Differenzierungsmaßnahmen wird Binnendifferenzierung nämlich zu einem extrem schwierigen Unterfangen, das sich umso schwieriger gestaltet, je heterogener eine Gruppe ist. Ab einem gewissen Grad von Heterogenität muss so viel Energie in deren Überbrückung investiert werden, dass das hehre Ziel der Binnendifferenzierung zur inhaltsleeren Worthülse verkommt.

Der Pädagogik ist diese Tatsache seit über einem halben Jahrhundert bewusst, und von früheren Unterrichtsministern wurde sie auch verstanden. Schon in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gab es eine Serie von Schulversuchen mit Leistungsgruppen im Bereich der AHS, die später – wohl aus Kostengründen – wieder eingestellt wurden. In den Hauptschulen wurde das Leistungsgruppensystem zur Regel – und zum Erfolg, zumindest im ländlichen Bereich. (Dass in der Neuen Mittelschule dieses bewährte System wieder abgeschafft, ja explizit verboten wurde, ist rational nicht nachvollziehbar und lässt sich nur durch ideologische Motive erklären: Offensichtlich darf am traditionellen System nichts in den Verdacht geraten, erhaltenswert zu sein, damit Neues nicht erst mühsam begründet werden muss.)

Die Schule der Person

Einen wichtigen Fortschritt gegenüber dem Prinzip einer rein strukturellen Differenzierung brachte eine Perspektivenerweiterung mit sich, die zu ihrer Zeit von einem breiten allgemeinen Konsens getragen wurde. (In der „vorideologischen“ Ära vor der gegenwärtigen Ministerin war Derartiges noch im Bereich des Denkmöglichen; die Stunde der „Bildungsexperten“ hatte noch nicht geschlagen). Indem sich der Fokus von der messbaren Leistung, also dem Produkt, auf den Prozess, der zu diesem Produkt führt, verlagerte und damit auf die Menschen, die diese Leistung erbringen, wurde das Prinzip der Individualisierung gewissermaßen zum „kategorischen Imperativ“ der Pädagogik.

In einer humanen (das heißt „Menschen“- und nicht Ideologie-zentrierten) „Schule der Zukunft“ sollten das organisatorische Instrument der Differenzierung und das methodische Instrument der Individualisierung noch um einen Schritt weitergedacht werden. Dabei ist festzuhalten, dass beide jedenfalls sinnvolle pädagogische Prinzipien sind, die erfreulicherweise bei uns (anders als in PISA-Sieger Ländern wie etwa Japan, China oder Singapur) längst zum Gemeingut der wirklichen Experten (= der Praktiker) geworden. Notwendig ist es aber darüber hinaus zu denken:  zum Prinzip der Personalisierung.

Die Schule der Zukunft muss eine „Schule der Person“ werden. „Personale Pädagogik kann nicht vom System her gedacht werden, auch nicht von Standards, von Lehr- oder Bildungsplänen und nicht von der Didaktik und Methodik her, sondern von den Potentialen der einzelnen Schülerinnen und Schüler. Das individuelle Kind, der einmalige Heranwachsende werden zum Bezugspunkt des pädagogischen Denkens und Handelns in Erziehung, Unterricht und Schule.“ (Gabriele Weigand, Schule der Person, 2004)

Der nach den bedeutsamsten vorangegangenen Entwicklungsschritten der Pädagogik – Differenzierung und Individualisierung – noch ausständige dritte Schritt ist jener von der Objektorientierung, in der der Lernende als Objekt des Lehrens gesehen wird, zu einer Subjektorientierung, die den Lernenden als Subjekt des eigenen Lernprozesses, als „Autor des eigenen Lebens“ (zitiert nach Weigand) in den Mittelpunkt rückt.

Vorrangiges Ziel einer solchen Schule der Person muss die Vermittlung bzw. der Erwerb jener drei vitalen Kompetenzen sein, ohne die das Leben nicht sinnvoll lebbar ist: soziale Kompetenz, ethische Kompetenz, reflektive Kompetenz. Die Konsequenz eines derartigen Gesinnungswandels wäre eine Humanisierung des schulischen Leistungsbegriffes und der Zieldefinition von Schule. Darüber – und nicht über ein sinnloses „Entweder – Oder“ von Gesamtschule versus differenziertes Schulsystem, oder von verpflichtender verschränkter Ganztagsschule versus freier Wahl einer Nachmittagsbetreuung  – müsste im Rahmen einer Bildungsreform, die sich selbst ernst nimmt, nachgedacht werden.

Dabei handelt es sich durchaus nicht um ein utopisches Ziel. Eine „Schule der Person“ als pädagogisches Paradigma, wie sie von Gabriele Weigand beschrieben wird, ist prinzipiell in jeder Organisationsform möglich. Zu seiner Verwirklichung gibt es erfolgsbewährte Instrumente, sowohl auf der Ebene der Schulorganisation als auch – besonders wichtig – auf der Ebene des täglichen Unterrichts (Autonomie, Partizipation, Begleitung).

Viele engagierte Lehrpersonen, ja sogar ganze Schulen, haben sich bereits auf den Weg zu einer solchen Schule der Zukunft gemacht. Noch müssen sie aber unter großem zeitlichem, oft auch finanziellem Einsatz in Eigeninitiative Weiterbildungskurse besuchen. Für die Zukunft brauchen wir daher im Rahmen einer zielgruppenorientierten, d.h. differenzierten Grundausbildung der Lehrer eine stärker ausgeprägte allgemeinpädagogische Schiene in Richtung auf eine „Schule der Person“, in der das vermittelt wird, was wichtiger ist als alle Strukturen und zugleich Grundvoraussetzung für jede sinnvolle Weiterentwicklung des Schulwesens: Eine „pädagogische Haltung“, die von den Hauptpersonen des Geschehens, den Schülern, ausgeht und auf diese zurückführt.

Symposion person:orientiert

In diese Richtung zu wirken, ist das Ziel eines Symposions, das unter dem Titel „person:orientiert. Begabungsförderung im Gespräch zwischen Theorie und Praxis“, von 28. 2. bis 2. 3. 2013 in den Räumen der Akademie der Wissenschaften und des Fortbildungszentrums der KPH Wien/Krems am Stephansplatz in Wien stattfindet. Die drei Themenschwerpunkte des Symposions – „Personen begaben“, „Lernen personalisieren“, „Schule gestalten“ – sind nicht am „System“ Schule, sondern an der Person des/der Lernenden festgemacht: Es geht um den Wert der Personalität gegenüber bloßer Individualität, um eine Personalisierung des Lernprozesses und um die innere Gestaltung und Entwicklung von Unterricht und Schule (in jeglicher Organisationsform, also un-ideologisch!) in Richtung auf eine „Schule der Person“.

Eine solche sieht Begabungsförderung nicht als eine Frage des Angebots (Inhalte, Methoden, pädagogische Theorien) – und Schulentwicklung nicht als eine Frage von Systemen (separativ vs. integrativ vs. inklusiv, differenziert vs. Gesamtschule) – sondern erblickt deren Wesen in der Qualität des subjektiven Erlebnisses des jeweiligen Angebots durch die Hauptpersonen des pädagogischen Geschehens: die Lernenden. In der Personalisierung des Lernprozesses (die über das derzeit gültige Dogma der Individualisierung hinausgeht) vollzieht sich dieser entscheidende Schritt von bloßer (struktureller) Lernförderung über individualisierende Begabungsförderung zur Persönlichkeitsentwicklung, die jeder Schule als ihre wichtigste Aufgabe vor Augen stehen sollte.

Ziel des Symposions wird es sein, eine Brücke zwischen wissenschaftlicher Forschung und praktischer Schulentwicklung zu schlagen, die die Theorie der Praxis nutzbar machen  soll, damit als Endprodukt tatsächlich Persönlichkeitsentwicklung herauskommt.

In bewusster Abgrenzung zum klassischen Kongress-Format bilden nicht Vorträge, sondern so genannte „Diskursforen“ das Rückgrat der Veranstaltung. In diesen Diskursforen sind Wissenschaft und Praxis durch je einen Experten vertreten. Deren Aufgabe wird es sein, durch kurze Impulsstatements die Diskussion in Gang zu bringen – und im Bedarfsfall auch in Gang zu halten – ohne aber automatisch die Rolle von Moderatoren zu übernehmen. Die Gespräche sollen sowohl hinsichtlich ihres Ablaufs als auch hinsichtlich ihrer Ergebnisse völlig offen sein.

Ein solches authentisches Erlebnis echter „Partizipation“ im Zuge eines diskursiven Verfahrens – bei dem die Autonomie der „Lernenden“ (Teilnehmer) gewahrt wird, indem nicht fertige Antworten vorgesetzt, sondern Letztere zu einer freien Themenwahl mit offenem Ausgang eingeladen werden – soll dazu führen, dass gewonnene Erkenntnisse durch persönliche Betroffenheit über den Weg der Reflexion auch tatsächlich in das eigene Handlungsrepertoire einfließen. Das Ergebnis eines solchen Prozesses soll letztlich denen zugutekommen, um die es bei allen pädagogischen Überlegungen und Maßnahmen in erster Linie gehen muss: den Schülern. Als Maßstab für den Erfolg oder Misserfolg des Symposions wird anzusehen sein, ob seine Ergebnisse einen spürbaren Niederschlag im täglichen Unterricht zumindest jener Schulen finden, die bei dieser Veranstaltung vertreten sein werden.

Da ein angemessenes Ausmaß an wissenschaftlich fundiertem Input als seriöse Grundlage und ordnender Rahmen für weiterführende Überlegungen unverzichtbar ist, sind die Diskursforen umrahmt von Hauptvorträgen der international renommierten Experten Joseph Renzulli und Sally Reis (University of Connecticut), Gabriele Weigand (Pädagogische Hochschule Karlsruhe), Martin Jäggle (Universität Wien), Klaus Wild (Universität Erlangen), Werner Wiater (Universität Augsburg) und Michael Hardt (Wirtschaftsuniversität Wien).

Als gemeinsame Veranstalter fungieren die internationale „eVOCATIOn“-Gruppe und das Institut TIBI (Thomasianum Institut für Begabungsentwicklung und Innovation) an der KPH Wien/Krems.

Kontakt, Detailprogramm und Anmeldung über www.institut-tibi.at.

Dr. Günter Schmid war lange Direktor der Karl-Popper-Schule in Wien, ist internationaler Bildungsexperte und Spezialist für Begabtenförderung, sowie Vorsitzender der „Bildungsplattform Leistung & Vielfalt“.

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