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Das Ende des sorgenden Staates

Eine Generation hat gut gelebt, Schulden gemacht, nicht an Morgen gedacht, fast keine Kinder in die Welt gesetzt – und sie feiert sich. Noch. Denn die Folgen ihres Lebenstils werden katastrophal. Neben dem gerade in den letzten Wochen langsam ins Bewusstsein rückenden Schuldenkollaps werden sich solche Folgen auch am gesamten System der Altersversorgung ablesen lassen. Von der Pension bis zur Pflege, auch wenn wir alle diese zwei Themen, weil nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv unerquicklich, gerne verdrängen.

Es tat daher gut, sich wieder einmal zwei Tage in Gesprächen mit vielen Experten ganz in all diese Zusammenhänge vertieft zu haben. In der „Denkwerkstatt St. Lambrecht“ wurde über die „Zukunft der Altersvorsorge aus Expertensicht“ nachgedacht. Dabei wurde allen Teilnehmern klar: Vor allem im staatlichen Pensionssystem, aber auch rund um den Pflegebedarf kommt ein bedrückendes Szenario auf uns zu. Oder wie es ein bekannter Grazer Soziologe formulierte: „Das Modell des sorgenden Staates zerbröselt.“

Bei der Forschung nach den Ursachen der Krise kamen vielen Experten aus Kreisen der Wissenschaft, Sozialpartner und Versicherungsfunktionäre auf die 70er Jahre zu sprechen. Also genau auf den Beginn der dieser Tage gerade wieder von ORF und Gleichgesinnten gefeierten Kreisky-Jahre, als wir es uns alle so gut gehen ließen und dies für ehrlich verdient hielten. Die Erbschaft jener Jahre und Gesinnung führt heute zu dicken roten Zahlen, und zwar gleich in mehreren Systemen.

Bei der Staatsschuld kosten uns heute alleine die Zinsen schon 10 Milliarden jährlich. Und deren Höhe hängt unweigerlich mit den Kreisky-Jahren zusammen. Hatte sie doch an deren Beginn 1970 nur 12 Prozent des damals überdies noch viel kleineren Bruttoinlandsprodukts ausgemacht. Sie war 1986, also am Ende der roten und rot-blauen Alleinregierungen, auf 54 Prozent geschnellt, hatte also in den Kreisky/Sinowatz-Jahren davor im Zuge großzügiger – und begeistert konsumierter – Wählerbestechungen den weitaus steilsten Anstieg der Nachkriegsgeschichte genommen. Unter Schüssel wurde der Schuldenstand um etliche Punkte gedrückt. Und erst nach 2007 gab es dann krisenbedingt den nächsten großen Schub: von 60 auf mindestens 74 Prozent des BIP.

Pensionen statt Arbeitslosigkeit


Aber die nur scheinbar goldene Ära Kreisky hat nicht nur die Budgetkasse tief verschuldet, sondern auch das Pensionssystem ausgeräumt. „Kreisky hat die Arbeitsmarktprobleme in hohem Ausmaß auf Kosten des Pensionssystems gelöst“, analysierte in St. Lambrecht ein Wiener Arbeitsrechtler.

Dennoch tragen andere Faktoren mindestens ebenso viel Schuld an den Problemen: Die unverantwortliche Ausdehnung des Wohlfahrtsstaates, das Schüren der Anspruchs- und Vollkaskomentalität – sowie der gleichzeitig einsetzende dramatische Geburtenrückgang. Wieweit dieser nun von der Pille und wieweit er wiederum von der Politik (Straffreistellung der Abtreibung, Entwertung des Systems Familie, Verschiebung aller sozialen Verantwortung auf den Staat, rasche Erhöhung der Frauenarbeitsquote) verursacht worden ist, wird sich wohl nie ganz klären lassen. Denn alles passierte in jener – merkwürdigerweise noch immer von vielen heroisierten – Umbruchszeit gleichzeitig. Dazu kommt seit vielen Generationen ein – an sich erfreulicher – steiler und ununterbrochener Anstieg der Lebenserwartung.

20 Punkte einer ernsten Diagnose


In der Folge einige nüchterne Zahlen, Daten und Zusammenhänge rund um Pensionen und Pflege  (über die wenigen Möglichkeiten, jetzt noch gegenzusteuern, folgt in den nächsten Tagen eine weitere Tagebuchnotiz):

  1. 1970 betrug das durchschnittliche Pensionsantrittsalter von Männern 61,3 Jahre, heute ist es trotz der deutlich gestiegenen Lebenserwartung nur 58,9 Jahre.

  2. 1970 haben Männer im Schnitt 14 Jahre Pensionen bezogen,  jetzt sind es 22 Jahre (bei Frauen liegt beides noch höher).

  3. Was aber noch viel weniger bekannt ist: 1970 hat man im Schnitt mit 19 Jahren zu arbeiten (und Pensionsbeiträge zu zahlen) begonnen, heute tut man das erst mit 23 Jahren. Mehr Menschen studieren, die Studiendauer wird – als Folge des Fehlens von Gebühren und Zugangskontrolle, aber auch schlechter Organisation – immer länger.

  4. Dadurch ist in Summe das durchschnittliche Arbeitsleben von 42 auf 35 Jahre zurückgegangen, damit schrumpften auch die Einzahlungen ins Pensionssystem.

  5. Die Geburtenrate beträgt heute statt der notwendigen 2,1 Geburten pro Frau weniger als 1,4: Und in dieser Zahl sind die überdurchschnittlich geburtenfreudigen Immigrantinnen schon enthalten. Mit anderen Worten: Die künftigen Financiers des Systems hätten schon geboren sein müssen.

  6. Der Inbegriff des Übels, des sorg- und kinderlosen Egoismus, der sich immer irgendwie auf andere verlässt, ist der Jahrgang 1963: Er war der stärkste Geburtenjahrgang der Nachkriegszeit, hat aber selbst die geringste prozentuelle Kinderzahl.

  7. Auch Immigration ist keine Lösung: Denn die Immigranten haben mehrheitlich eine geringe Bildung (tragen daher kaum zur Produktivität bei) und sind zu einem viel niedrigeren Anteil als die Alt-Österreicher berufstätig, also beitragszahlend (vor allem die weiblichen Immigranten, aber auch die männlichen).

  8. Gleichzeitig steigt die Lebenserwartung ständig an. Die Kurve geht seit den 50er Jahren steil nach oben. Alle drei bis vier Jahre werden wir ein Jahr älter. Und nur wenige glauben, dass unser ungesunder Lebenswandel (wir bemühen uns ja sehr: Übergewicht, wenig Sport, Drogenkonsum) den ununterbrochenen Fortschritten der Medizin eines Tages einen signifikanten Strich durch die Rechnung machen wird.
    - 1840: Die Lebenserwartung war weltweit unter 40 Jahren.
    - 1930: In Österreich erreichte sie 54,5 Jahre.
    - 1955: war sie 64,6 (nur 20 Prozent erreichten das Pensionsalter!).
    - 2009: war sie 77,6 (wenn man jene abzieht, die nicht als Kinder oder Junge gestorben sind, ist sie natürlich noch viel höher!)

  9. Logischerweise steigt parallel der Anteil der 60-jährigen (und älteren) Menschen:
    - 1930: 12 Prozent
    - 1955: 16,7 Prozent
    - 2009: 24,2 Prozent
    - 2020: 34,7 Prozent (demographische Hochrechnungen sind immer viel seriöser und verlässlicher als die von Konjunktur- oder Klima-Modellen).
    Noch drastischer sieht es mit der Zahl der Über-85-Jährigen aus: Die wird sich in den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten verdreifachen. Was besonders für das Pflegesystem problematisch wird.

  10. Trotzdem werden heute viel großzügigere Pensionen bezahlt: 1970 waren noch 302.000 auf die Mindestpension (Ausgleichszulage) angewiesen, heute sind es von einer größeren Pensionistenzahl nur 240.000, die nur die Mindestpension beziehen (obwohl diese überdurchschnittlich steil gestiegen ist).

  11. In Österreich ist die betriebliche und private Altersvorsorge viel niedriger als anderswo: Sie macht nur 1 Prozent der Pensionen aus, in Kanada etwa sind es 50 Prozent.

  12. Die Politik hat in den letzten Jahren der staatlichen Pensionsversicherung eine Vielzahl von Aufgaben auferlegt, die mit dem System einer Versicherung überhaupt nichts zu tun haben. Der Staat zahlt auch nur einen Teil der dafür nötigen Beiträge ins System ein. Diese staatlichen Beiträge entlasten zwar heute noch das Umlagesystem, also die Renten für früher entstandene Ansprüche; sie führen aber langfristig zu schweren zusätzlichen Lasten: Denn der Staat schuf neue Pensionsansprüche für Kindererziehungsjahre, für Familienhospizkarenz, für Präsenz- und Zivildienst, für den Dienstleistungsscheck, für billige Selbstversicherungsmodelle usw. Die ausgeräumten Kassen der Pensionsversicherung werden aber nicht nur ständig mit neuen beitragslosen Ansprüchen auf die Zukunft beladen; sie müssen anstelle der schon länger kranken Krankenkassen sogar die Rehabilitation für Herzinfarkt-Patienten zahlen.

  13. Der Bundesbeitrag zur Pensionsversicherung ist binnen kurzem schon von 3,4 Milliarden (2006) auf 6,7 (2010) gestiegen. Dabei sind die zwischen den 40er und 60er Jahren geborenen Babyboomer noch großteils aktiv. Die Katastrophe kommt aber erst, wenn die in wenigen Jahren alle in Pension gehen.

  14. Die von manchen linken Ökonomen geschürte Erwartung eines (durch Schulden finanzierten) Produktivitätswachstums zur Finanzierung von Pension und Pflege ist eine absolute Illusion. Denn die Produktivität sinkt ständig: Betrug ihr Wachstum in den Nachkriegsjahrzehnten im Schnitt noch fünf Prozent jährlich, so ist sie im letzten Jahrzehnt auf 0,7 Prozent pro Jahr gesunken.

  15. Das Pensionsproblem wird durch jenes mit dem Pflegesystem möglicherweise sogar noch übertroffen: Die Ursachen sind die höhere Frauenarbeitsquote (dadurch fallen viele der früheren Gratis-Pflegerinnen weg), die Mobilität der nächsten Generation (die vielfach gar nicht in der Nähe der Pflegebedürftigen wohnt) und die Steigerung der Arbeitskosten pro Pflegekraft – trotz des rasch steigenden Anteils von Ausländern in den Pflegeberufen (Unter den 900 Angestellten in den zwölf Heimen der Wiener Caritas finden sich 38 Nationalitäten).

  16. Vorsorgen für die Pflegezeit ist in Österreich noch weniger üblich als für die normale Pensionszeit: Die Österreicher verlassen sich zunehmend zum Unterschied von anderen Nationen alleine darauf, dass die öffentliche Hand sie in allen Lebenssituation auffängt (Experten nennen das "Samariter-Syndrom"). Das Risiko der eigenen Pflegebedürftigkeit ist außerdem eine so unerquickliche Perspektive, dass sie sowieso gerne verdrängt wird.

  17. Das österreichische Pflegegeldsystem hat sich als Fehlkonstruktion erwiesen. Es gibt Bargeld auch dort, wo gar keines gebraucht wird, dafür mangelt es jetzt schon an pflegenden Händen. Und während die Mega-Risken – besonders hoher Pflegebedarf – gar nicht abgesichert sind, werden mit den Pflegestufen eins und zwei relativ harmlose Situationen honoriert, für die es etwa in Deutschland noch gar keine staatliche Hilfe gibt (Gerüchteweise wird im Herbst nach den Wiener Wahlen die Stufe eins gekappt werden – aber um das Budget zu retten, und nicht das Pflegesystem).

  18. Die Pflegebedürftigkeit hat eine ganz klare Ursache. Sie heißt Demenz. Diese liegt in 80 Prozent der Pflegefälle vor. Was zweifellos für die Pfleger belastender ist als körperliche Defizite.

  19. Die Wahlkampf-attraktive Abschaffung des Angehörigen-Regresses hat das Pflegesystem noch empfindlich teurer gemacht. Allein in Niederösterreich ist dadurch binnen kurzem der Bedarf um 1000 Pflegeplätze gestiegen: Die alten Angehörigen wurden sofort in Heime entsorgt, weil das nun die bisher selbst pflegenden Angehörigen nichts mehr kostet (während das eigene Geld der Alten ohnedies meist längst versteckt worden ist).

  20. Parallel zur staatlichen Pension hat man in den letzten Jahren eine Vielzahl von zusätzlichen Formen entstehen lassen: Pensionskassen, Vorsorgekassen, geförderte Lebensversicherungen. Was an sich positiv ist. Dabei wurde aber jede Form kasuistisch so unterschiedlich geregelt, dass sich kaum ein Bürger wirklich auskennt, und das System insgesamt viel teurer ist als ein einheitliches, aber flexibles (wo etwa jeder wählen kann, ob er eine teure Kapitalgarantie will oder nicht).

  21. Und last but not least: Die rasch gewachsene (Früh- und Normal-)Pensionistenzahl veranlasst die Politik dazu, mehr denn je aus wahltaktischen Gründen auf die recht aggressiven Pensionistenverbände Rücksicht zu nehmen (die übrigens neben den Politikern als einzige Betroffene wohlweislich solchen Nachdenkveranstaltungen fernbleiben). Ein Sozialversicherungsfunktionär sagt daher auch ganz unumwunden: „Jahre mit Null Pensionserhöhungen, wie es sie in Deutschland oft gibt, sind in Österreich völlig unrealistisch.“ Im Gegenteil: Die Politik hat einen alljährlichen Erhöhungsautomatismus festgeschrieben. Und ist unter Druck bevorstehender Wahlen des Öfteren sogar darüber hinausgegangen.


Einziger Lichtblick: Die Medizin


Neben all den schlechten Nachrichten ergab das Nachdenken der Experten aber zumindest auch eine gute Botschaft: Die durch Erhöhung der Lebenserwartung dazugewonnene Lebenszeit wird dank der Medizin eine recht gesunde Zeit mit akzeptabler Lebensqualität sein. Und die – freilich viel zahlreicher werdenden – Pflegphasen könnten nach einigen Studien zeitlich sogar kürzer werden. Im Schnitt.

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